Anna und Gil
In letzter Zeit träume ich viel. Einer der Träume war so:
Der grosse Bruder
Da war eine Schlange, die sich neben meinem Bett aufgerichtet hatte und mich anspie. Ich stand auf, ging zu meinem Bruder Udo und sagte:
– Ich habe eine Schlange in meinem Zimmer – hilf mir! Mach sie weg!
Udo ging nach oben und kam mit einem Blumentopf zurück. In der Erde war die Schlange, sie war jetzt ganz klein und verschlafen … seltsam …
Zurück im Garten
Und in der nächsten Nacht war ich im Traum wieder in jenem Garten mit dem Baum und den schrecklichen Wesen:
Da war auch wieder die Frau, die durch den Garten ging. Doch nun war ein grosser starken Mann, ein richtiger Held in einer glänzenden Rüstung, an ihrer Seite. Muskulös und wild sah er aus, mit schulterlangem Haar.
Hilfe durch den starken Helden: die Fällung des Baumes
Er war offensichtlich ein Krieger, denn er trug eine starke, glänzende Rüstung und eine gewaltige Axt auf der Schulter.
Ohne zu zögern, ging er geradewegs auf den Baum zu und dann … Schlag auf Schlag … hieb er auf den Baum ein. Der Baum wankte.
Lilith, die Frau mit den grünen Augen im Stamm, schaute entsetzt hervor und zischte die Frau an:
– Das hast du selber zu verantworten!
Wütend schlug sie um sich und zertrümmerte ihr Haus, bevor sie sich aus dem Staub machte.
Auch der Löwenadler kreischte laut. Er zog noch ein paar Kreise in der Luft, sammelte seine plumpen, flatternden Jungen und war weg.
Wumm! Der Baum fiel!
Aus den Wurzeln schaute nun die Schlange hervor. Sie war riesengross und ihre Augen … Wieder wurde mir beinahe schlecht, als ich in die Schlitze ihrer giftgrünen Augen blickte. Ich dachte: Jetzt lässt der Krieger die Axt bestimmt fallen … Das tat er auch: Er liess seine schwere Axt fallen … ein Donnerschlag! – auf den Kopf der Schlange! Der Kopf des Monstrums war ab! Dann lockerte der Held mit seiner Axt die Wurzeln des Baumes und es kamen weitere junge Männer dazu, welche ebenfalls Äste abschnitten.
Hochzeit
Als Nächstes sah ich die Frau in einem hellen, schimmernden Kleid auf einem Stuhl sitzen oder besser auf einer Art Thron aus schwarzem, glänzenden Holz. Er war erhöht mit mächtigen Armstützen. Der Held stand vor ihr in einem purpurroten Umhang. Sie hob ihre Arme und reichte ihm feierlich einen geflochtenen Reif aus den Ästen und einen geschwungenen Stab aus den Wurzeln. Stab und Ring waren durch ein rot-blaues Band verbunden. Dann kniete sie vor dem Helden nieder…
Daneben stand ein Bett – ebenfalls aus demselben schwarzen, glänzenden Holz.
Es war eine besondere … eine heilige Stimmung.
***
Der grosse Bruder
Ich erwachte und fühlte mich noch immer wie berauscht durch den Traum.
Später, am Nachmittag, erhielt ich ein Telefon von Gil. Seit der Party hatten wir begonnen, uns zu treffen.
Das war meinem Bruder Udo nicht entgangen. Er kam in mein Zimmer um, wie er sagte, unter vier Augen mit mir zu sprechen:
– Mir ist aufgefallen, dass du mit diesem Gil Kontakt hast. Man hat dich mit ihm gesehen. Du triffst ihn ein bisschen viel – zu viel … für meinen Geschmack! – Irgendwie traue ich dem Kerl nicht …
Da wurde ich sauer auf ihn:
– Schnüffelst du jetzt hinter mir her?! Weisst du was?! Deine Meinung interessiert mich nicht! Hat Mama dich als Kindermädchen auf mich angesetzt, oder was? Und überhaupt: Wie kannst du so etwas sagen?! Du kennst Gil doch gar nicht!
Noch bevor er antworten konnte, fuhr ich ihn an:
– Und überhaupt: ICH KANN SEHR GUT AUF MICH SELBER AUFPASSEN! Schau du für dich selbst und deine Angelegenheiten.
Damit verliess ich das Zimmer und knallte die Tür hinter mir zu.
Der starke Held
Wenige Tage später hatte Gil mich zu sich nach Hause eingeladen. Zuerst servierte er uns einen Prosecco. Ich war beeindruckt von seiner schönen Wohnung mit Blick über die Stadt und war vor allem auch beeindruckt von ihm! Er war so charmant und zuvorkommend. Zudem hatte er himmlisch für mich gekocht, einen guten Wein aufgemacht. Wir assen, lachten, unterhielten uns gut.
Mit ihm konnte ich über alles reden, was mich beschäftigte:
– Mama nervt. Ich glaube, sie ist frustriert und muss ihren Frust immer an mir rauslassen. Und sie will unbedingt immer die Schönste sein – und auch sexy. Ein bisschen peinlich finde ich schon, dass sie in ihrem Alter noch Ambitionen hat, wie es scheint.
Sie hat jetzt auch einen neuen Freund, der nervt mich. Er versucht ständig, mich zu begrapschen. Zum Glück ist er nicht so viel bei uns. – Aber dass er wirklich so hart arbeitet… das glaube ich irgendwie nicht. Ich möchte gar nicht wissen, womit er sich sonst noch die Zeit vertreibt! – Meinen Vater habe ich nie gekannt. Mama sagt, er sei bei einer Bergwanderung ums Leben gekommen. Das sei schon lange her, sagt sie jeweils und wechselt das Thema.
Deshalb meint Udo wohl, er müsse Vater-Ersatz spielen. Er ist ganz Mamas Liebling. Bei ihm lässt sie alles durch, ihm traut sie alles zu!
Gil hatte seine honigbraunen Augen auf mich geheftet, hörte interessiert zu und nickte bestätigend. Ich hatte das Gefühl, dass er mich versteht.
Die Fällung des Baumes
Nach dem Essen war ich schon ziemlich beschwipst, da tischte er noch einen Whisky auf. Wir sassen auf dem Sofa, assen dazu Schokolade und hörten Musik … Gil kam immer näher. Er legte seinen Arm um mich, küsste mich – berauschend. Schon lag seine Hand auf meinem Schenkel. Mir wurde schwindlig.
– Du bist einfach umwerfend!, hauchte er in mein Ohr: Noch nie habe ich eine Frau wie dich getroffen! Du bist eine Göttin! Weisst du das eigentlich?!
Im Rausch der Magie
Mein Körper sprach auf ihn an, es war wie ein Feuer, es war Magie! Er begann, sich an meiner Bluse zu schaffen zu machen … und dann … mit geschickten Händen … immer weiter … Er war nicht zu bremsen! Ich versuchte zaghaft, mich zu wehren, aber er sagte mit heiserer Stimme:
– Komm schon! Stell dich nicht so an. Du willst es doch auch … bist doch eine richtige Frau … und was für eine! Du bringst mich um den Verstand!
Dann drang er in mich ein … Und plötzlich war alles vorbei. Er half mir wieder in meine Kleider:
– Ich bringe dich jetzt nach Hause!, sagte er rasch: Es ist schon spät.
Der Kater nach dem Rausch
Tatsächlich! Es war schon fast zwölf Uhr! Udo war noch auf. Er schien verärgert:
– So spät?? Wo bist du gewesen?! –
– Das geht dich nichts an!, fauchte ich ihn an und verschwand in meinem Zimmer.
Als ich am nächsten Tag Gil anrief, erreichte ich ihn nicht. Am Tag darauf hatte ich ihn dann endlich dran. Er schien weit weg, druckste rum und meinte, er sei zurzeit völlig im Stress, – geschäftlich, wie er betonte.
Ich war schockiert, denn er war wie umgekehrt, kurz angebunden und abwesend, um nicht zu sagen abweisend. Schnell beendete er das Gespräche mit der Bemerkung, er habe jetzt keine Zeit zum Reden. Ich war perplex.
Auch auf meine SMS antwortete er nur knapp: Er würde sich melden, sobald er wieder mehr Luft habe. – Was soll denn das bedeuten?!
Ich war zutiefst verunsichert. Sollte ich mich melden? Tage verstrichen, die mir wie eine Ewigkeit vorkamen. Ich war wütend und immer mehr enttäuscht!
Verrat!
Nach ein paar Wochen sprach Udo mich wieder an:
– Na, wie geht’s so mit Gil??, wollte er wissen.
Ohne meine Antwort abzuwarten, fuhr er fort:
– Ich hörte ihn neulich mit seinen Frauengeschichten prahlen, da fiel auch dein Name …
Er blickte mich forschend an. Ich wurde rot und zischte ihn an:
– Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten! Er hob die Augenbrauen:
– Ach soo ist das … Tja, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm!, sagte er nur und zuckte die Schultern.
Wie soll ich denn das nun wieder verstehen? Sollte das eine Anspielung auf Mama sein?? Ihre Beziehungen zu Männern …? – Ich bin sicher nicht wie SIE!
Wenig später traf ich Gil zufällig am Abend im Ausgang – mit einer anderen! Ich packte ihn und stellte ihn zur Rede. Zuerst drückte er sich rum:
– Aach, sie ist nur eine Kollegin … Doch dann fügte er hinzu: – Aber wenn wir gerade dabei sind … Hör mal! Wir hatten es wirklich cool zusammen … Aber ich habe keinen Bock auf eine feste Beziehung!
Enttäuschung
Es war, als würde mir der Boden unter den Füssen weggezogen.
Ich bin enttäuscht! Gil hat mich so etwas von enttäuscht!!!
Er macht nun voll auf Macho. Die Frauen fahren total auf ihn ab, das hat er wohl gemerkt, ja, sie vergöttern ihn! – Sie werfen sich ihm buchstäblich vor die Füsse. Da kann er natürlich nicht widerstehen …
Aber ich fühle mich Scheisse… ich fühle mich betrogen, ja, verarscht! So ein Feigling! So ein unreifer Holzkopf und rücksichtsloser Egoist!!! Es ist überhaupt nicht ok, wie er mit mir umgesprungen ist!
Späte Einsicht
Aber ich bin selber Schuld! Hätte ich doch auf Udo gehört!
Was soll ich denn nun tun?? – Ich muss mit jemandem sprechen, mit jemandem, der mir helfen kann, der Gil vielleicht auch den Kopf zurechtrücken kann …
Da fällt mir Enrico, Mamas Bruder, ein. Er arbeitet als Therapeut, glaube ich. – Und er ist Gils Patenonkel, wenn ich nicht irre. Ich will mit ihm Kontakt aufnehmen.