Goldspur

Der Ewigkeit auf der Spur

Inanna und Lilith: der Baum im Griff der Macht (2)

Inannas oder Liliths Baum

By on 9. August 2022

Inannas oder Liliths Baum

Inanna und Lilith – die Schlange im Baum 

Als die junge Göttin Inanna in ihrem Garten in Eden spazieren geht, entdeckt sie eines Tages, dass ihr Baum von fremden Wesen der Macht besetzt ist, von der Schlange, von Lilith und einem riesigen Vogel. Sie weint. Doch vielleicht sind die Wesen gar nicht so fremd? Vielleicht sind Inanna und Lilith sogar Schwestern?

Was bisher geschah

Die junge Göttin der Liebe sah ein Bäumchen im Euphrat treiben, holte es aus dem Fluss und pflanzte es in ihren Garten. Sie plante, aus seinem Holz ihren Thron und ihr Bett zimmern zu lassen, sobald er gross genug wäre. Aber die Jahre verstrichen und es machte sich eine gewisse Ungeduld breit …

[Zurück zu: Inannas Baum im Garten Eden (Episode 1).]

Inanna und Lilith im Originaltext *

Die Jahre vergingen; fünf Jahre, zehn Jahre.
Der Baum wuchs und wurde dick,
aber seine Rinde sprang nicht auf.

Und dann entdeckte die junge Göttin Inanna eines Tages, dass ihr Baum von furchterregenden Wesen besetzt war:

Dann schlug eine Schlange, die nicht gezähmt werden konnte,
ihr Nest in den Wurzeln des Baumes auf,
und der AnZu-Vogel setzte seine Brut in die Zweige des Baumes,
und die dunkle Jungfrau Lilith baute ihr Haus in seinen Stamm.

 Die junge Frau, die gerne lachte, weinte.
Und wie Inanna weinte!
[Denn sie wollten den Baum nicht verlassen.]

Kontext: Der Weltenbaum als Symbol für die ganze Existenz

Der Baum beschreibt die ganze Existenz, wovon alle Bereiche durch Macht besetzt sind:

Weltenbaum oder Baum des Lebens
  1. Die KRONE, Symbol für den GEIST und das Bewusstsein (VATER). Hier hat der Löwenadler sein Nest gebaut.
  2. Die WURZELN, Symbol für das Leben in der MATERIE und im Körper (MUTTER). Hier wohnt nun die Schlange, die nicht gezähmt werden kann.
  3. Der STAMM, Symbol für das LEBEN auf der Erde zwischen Himmel und Unterwelt, Geist und Materie als Einheit von Seele und Körper (TOCHTER und SOHN). Darin hat Lilith, die dunkle Jungfrau, ihre Wohnung bezogen.

Inanna und Lilith – Macht besetzt den Baum

Inanna und der Huluppu-Baum

Wer sind nun also diese drei furchterregenden Gestalten, die den Baum der Göttin besetzen? Es sind Archetypen, welche Egoismus, Macht und Herrschaft symbolisieren. Kurz formuliert:

  • Im Unbewussten (in der Materie und im Körper): die Schlange für kalte, berechnende, „listige“ Triebhaftigkeit und Verblendung (Lähmung)
  • In der Seele: Lilith, die dunkle Jungfrau, für weibliche Macht durch Verführung und Erotik
  • Im Geist: der Löwenadler für Macht durch Raub und Gewalt

Nun eine genauere Betrachtung der einzelnen Wesen, welche diese drei Bereiche besetzt haben: Während Lilith und die Schlange im Baum den unteren Bereich besetzen, nistet der Löwenadler in dessen Krone.

1. Die Schlange in den Wurzeln: Macht als Ego-Trieb

Das menschliche Reptiliengehirn und das Ego

Zuunterst in den Wurzeln, hat sich die Schlange im Baum eingenistet. Sie kann nicht gezähmt werden, wie die sumerische Mythologie betont!
Die Wurzeln symbolisieren das Unbewusste, und die Schlange steht für das Ego, das mittels der Triebe Macht ausübt (s. Die Schlange im Kopf – das Reptiliengehirn).

Das Stammhirn und die Tiernatur des Menschen
Im limbischen System

Anatomisch gesehen befinden sich die Triebe und automatischen Körperfunktionen in den tieferen Hirnstrukturen, die in den älteren Teilen des menschlichen Gehirns lokalisiert sind, im limbischen System.

Die alte Schlange und die Überwindung des Drachen

Ziel ist, dass der Mensch lernt, unbewusste Verhaltensmuster und Reaktionen, die ihm selber und andern schaden, mit seinem liebenden Bewusstsein zu kontrollieren. So geht es in den Überlieferungen immer um die Überwindung der «alten Schlange», die zum Drachen geworden ist.

[S. dazu: Der Drache, die alte Schlange und ihre Überwindung; Der Drache und die Verfolgung der Frau; Der Drachentöter Georg und die Jungfrau (Einführung); Martha und die Zähmung des Drachen.]

Die Schlange im Kopf

2. Der Löwenadler in der Krone: geistige Macht

Macht und Herrschaft im Geist

Die Krone symbolisiert den Bereich des Geistes und des Bewusstseins. Sumerisch AnZu ist die Bezeichnung für das Grosse Oben, den Geist (im Gegensatz zu AbZu, das Grosse Unten, das Unbewusste, s. Vater und Mutter, Geist und Materie).

Der Anzu-Vogel: Geistige Macht durch Raub

Ein grosser Vogel hat die Krone des Baumes besetzt, darin sein Nest gebaut und bereits Junge ausgebrütet! Der AnZu-Vogel ist ein gewaltiges «Tier», ein besonderer Vogel.
So findet man in den sumerischen und späteren Darstellungen Abbildungen des Löwenadlers, welcher auch das Wappentier vieler Herrscher war. Er verbindet die beiden gefährlichsten Raubtiere der Erde (Löwe) und der Luft (Adler) und steht damit für geistige Macht durch Gewaltherrschaft.

Löwenadler, 2500 v. Chr.

Zwischen Himmel und Unterwelt, Geist und Materie findet das Leben auf der Erde statt. Dieser Bereich ist von Lilith, der dunklen Jungfrau, besetzt.

3. Lilith im Stamm: Macht durch Verführung

Lilith von John Collier (Quelle. Wikipedia)

Lil-Itu, Tochter des En-Lil

Der Name Lilith setzt sich aus sumerisch LIL=Luft und ITU=dunkel zusammen. Wörtlich bedeutet der Name also «dunkle Luft» und wird auch als «Nachtwind» übersetzt. Die Silbe LIL ist auch ein Hinweis auf den jugendlichen und machtorientierten Gott der Luft, En-Lil. Gemäss der sumerischen Schöpfungsgeschichte ist er dafür verantwortlich, dass das Leben in die Unterwelt, also in Unbewusstheit geraten ist (s. I – In den ersten Tagen und II: Der Vater und der Gott der Luft).

Inanna und Lilith: Liebe oder Macht und Weiblichkeit im Minus

Lilith stellt als die dunkle «Tochter» der Luft den Schatten der Liebe, also negative Weiblichkeit dar. Diese übt Macht durch Verführung aus, um nehmen zu können, statt sich aus Liebe hinzugeben.

Somit sind Inanna und Lilith “Schwestern” oder zwei Seiten derselben Energie, der Liebe.

Weshalb ist Lilith auf die dunkle Seite gekippt? Lil-Itu und En-Lil
Lilith, die missbrauchte Tochter des EnLil

Es ist anzunehmen, dass Lilith als Archetyp für das Weibliche früh mit der männlichen Seite der Macht in Berührung gekommen ist. Durch kleine oder grössere Übergriffe unreifer Macho-Männlichkeit hat sie ihre Geborgenheit in der reinen Liebe und ihre Verankerung in ihrem Körper verloren.
Dies hat dazu geführt, dass sie nicht mehr im Plus, oder mit anderen Worten in “Unschuld” ist, sondern in “Schuld”, also im Minus. Dieses ist mit einem Gefühl des Mangels verbunden, mit Negativität (“Nicht-Leben”), und führt in einem nächsten Schritt zum Begehren nach Macht.
Ist die Liebe “gestorben”, “kippt” sie stattdessen in den Bereich des Geistes, wo sie Macht durch Verführung lebt (wodurch sie ihren Körper selbst weiter missbraucht; s. Missbrauch – das gestohlene Leben).

En-Lil, der Gott des Windes (der Luft): übergriffige Männlichkeit

Verursacher ist der Gott EnLil. Als der Gott der Luft, symbolisiert er stürmische, übergriffige Macho-Männlichkeit. Er ist derjenige, der das Bäumchen entwurzelt hatte, sodass es in den Fluss gefallen war (s. Der Vater und der Gott der Luft, Prolog II).

Der Gott der Luft spielt auch im babylonischen Gilgamesh-Epos eine wichtige Rolle. Der junge Gilgamesh betet ihn an und macht aus der hohen Zeder, die er gefällt hat, eine Tür im Tempel des EnLil (was an sich schon überaus symbolträchtig ist). Zudem ist der Gott der Luft auch für die grosse Flut verantwortlich.

[S. Lilith: zerstörte und verstörende Weiblichkeit und die Macht der Frau.]

Missbrauch als kollektive destruktive Realität, als Fluch oder "Erbsünde"
Fluch und “Erbsünde”

So beschreiben bereits die ersten Überlieferungen Missbrauch als eine Realität, die von Anfang an da war, sozusagen «von den Göttern» geerbt. Diese hat seither als Erbsünde oder Fluch das Schicksal der Menschheit belastet und geprägt.

[S. Fluch und Erlösung: Missbrauch und Macht in Überlieferungen und Die Erbsünde: Macht und Missbrauch als kollektives Problem.]

Eine kollektive schmerzhafte Realität

Diese Realität ist mit negativer Energie aufgeladen und kann Frauen auch dann beeinflussen, wenn sie selbst keine schlechten Erfahrungen gemacht haben. Zudem kann der ursprüngliche Missbrauch auch der Mutter oder Grossmutter geschehen sein oder noch weiter zurückliegen.

[S. Der Teufel als SchmerzkörperDer Schmerzkörper der Frau und Dunkle Geheimnisse als Fluch).

Darüber hinaus können Frauen auch von Frauen missbraucht werden, indem ihre unschuldige Liebe mit Misstrauen oder Schmerz vergiftet wird.

[S. Der vergiftete Apfel: Missbrauch als kollektive Realität.]

Inanna und Lilith als positive Anima und negative Seite der Anima
Die helle und die dunkle Schwester: Inanna und Lilith

Inanna und Lilith stellen zwei Seiten der Jungfrau oder jungen Frau dar. Als Göttinnen sind sie zudem Anima-Gestalten. Während Inanna für die positive Seite und damit für reine Liebe steht, symbolisiert Lilith die Schattenseite, nämlich die weibliche Seite der Macht durch Verführung (HURE) oder Verblendung (SCHLANGE).

[S. Die negative Anima als Hure oder Schlange; Die Anima – Inspiration und Motivation (Seele) und Die Jungfrau – Wunder wirkende Liebe und Potenzial.]

Inanna und Lilith und die Integration des Schattens

Sowohl Männer wie auch Frauen müssen auf dem Weg zurück zu Ganzheit die Schattenseite (das Ego als Schlange) überwinden und zu reiner, ewiger Liebe zurückfinden. Der Weg führt durch die Unterwelt, das Reich der Schatten. Das Weibliche, das auch für das Leben als Ganzes steht, muss sich dabei mit Verletzungen und mit der eigenen Schwäche versöhnen.

[S. Die Integration der Anima.]

Darum geht es in der Überlieferung um Inanna.

Das dunkle Begehren nach Macht ist aus dem Gefühl des Mangels geboren und weckt die Triebe anstelle der Liebe, die dem Licht entspricht.

“Inanna weinte”: Depression statt Integration

Inanna und Lilith: Angst vor der dunklen Seite

Mit einem Schlag ist die kindliche Unbeschwertheit verflogen und Inanna weint, als sie die Wesen wahrnimmt, die ihren Baum besetzen. Verständlicherweise lehnt sie diese ab und ist damit weit davon entfernt, sie zu integrieren. Damit ist sie in Gefahr, auf die „dunkle“ Seite, das heisst in den Griff der Macht zu geraten.

Doch zunächst ist sie mit der Realität, die sie (in der Welt der Erwachsenen?) wahrnimmt, einfach nur überfordert und fällt in eine Teenager-Depression: Sie weint.

Inanna und Lilith – der Baum und die Macht als moderne Erzählung:

Anna:

Gestern hatte ich mir den Film «Maleficent, die dunkle Fee» angeschaut. Und heute Nacht hatte ich einen Traum, der mich erschreckte:

Die Schlange im Baum

Ich sah eine junge Frau, die durch einen Garten ging. Sie kam zu einem Baum mit seltsamen, furchteinflössenden Wesen: In den Wurzeln wohnte eine riesige Schlange. Mein Herz blieb fast stehen, als ich ihren kalten, hypnotisierenden Blick sah. Dann raschelte es in den tiefer hängenden Ästen und dahinter schaute eine Frau hervor – aus einem Loch im Stamm! Sie war schön, aber bleich wie der Tod. Ihr rotes Haar fiel über den Stamm hinab und ihre giftgrünen Augen leuchteten.

Inanna und Lilith: eine erste Begegnung

Sie sprach mit säuselnder Stimme:
– Hallööchen Prinzesschen, wie gehts denn soo ???
– W … wer bist du???, hörte ich die junge Frau erschrocken fragen.

Als Antwort kam eine rauschende Stimme:
– Nenn mich, wie du willst! – Ich bin die 13. Fee! Ich bin Lilith! Ich bin du …!

Der Löwenadler

Sie lachte schrill und blickte nach oben. Ihr Lachen ging über in ein Kreischen, das aus der Baumkrone ertönte. Es war der Schrei eines riesigen Vogels, der hatte Flügel wie ein Adler, die sich über den Ästen ausbreiteten! Doch statt eines Schnabels hatte er den Kopf eines Löwen mit einem gewaltigen Schlund! Er hatte in der Krone ein Nest gebaut und es sassen auch schon krächzende Junge drin, ich weiss nicht, wie viele!!!

Angst vor dem Erwachsenwerden

Schweissgebadet erwachte ich aus dem Traum, total aufgewühlt, während das schrille Lachen und das Kreischen noch in meinen Ohren klangen. Unmöglich, wieder einzuschlafen!

Ich verstehe nicht, was das zu bedeuten hat …
Ach!

Manchmal möchte ich mich am liebsten verkriechen …
Manchmal habe ich Angst.

Missbrauch als kollektive Realität – der Schmerzkörper

Ich habe Angst vor dem Erwachsenwerden – und Angst vor der Sexualität.

Wie soll ich damit umgehen?

Es entgeht mir nicht, dass Männer beginnen, mich anzuschauen … mit bewundernden Blicken … Manchmal machen sie mir auch Komplimente …

Macht und Ohnmacht der Frau

Es ist wohl so, dass eine schöne Frau von Männern alles haben kann.
Kein Wunder, machen Frauen alles, um schön und begehrt zu sein und zu bleiben. Aber häufig sind sie auch hart – und frustriert, denke ich.
Meine Mutter ist auf jeden Fall immer wieder sehr hart zu mir, finde ich.

Missbrauch

Wenn man als Frau zu stark ist, schreckt das Männer ab, so kommt es mir vor. Diese haben mehr Freude an jungen Frauen wie mir … Ich spüre ihre Aufmerksamkeit, wenn sie mich wahrnehmen. Mancher versucht, mit mir zu flirten, mancher macht anzügliche Sprüche … Es hat mich auch schon einer berührt – auf eine Art … ich weiss auch nicht – einfach eklig!

Macht als kollektive Realität und Fluch

Letztlich geht es bei den Erwachsenen doch immer um Sex, Geld und Macht. Sie wollen Macht und immer mehr Macht …
Ich will das nicht, will nicht so werden wie die …

Im Rausch der Macht

Einerseits ist mir das alles nicht ganz geheuer, andererseits ist es tief innen auch ein berauschendes Gefühl. Denn ein bisschen aufregend ist es schon, heranzuwachsen und plötzlich Teil des Spiels zu sein.
Immer wieder denke ich an Gilbert …

– Neulich an der Party, als wir zusammen tanzten, da drückte er mich fest an sich …
Dabei spürte ich ungewohnte, starke Gefühle … Ja, noch immer, wenn ich daran denke …

Dann gerate ich ganz durcheinander.

Bin ich verliebt?

Aus dem Hohelied der Liebe der Bibel (Kapitel 2,7):

Ich beschwöre euch, Töchter Jerusalems, bei den Gazellen oder bei den Hirschkühen des Feldes:
Weckt nicht, stört nicht auf die Liebe, bevor es ihr selber gefällt!

* Originaltext: Übersetzung aus dem Sumerischen ins Englische

S.N. Kramer in WOLKSTEIN, DIANE / KRAMER SAMUEL NOAH. Inanna, Queen of Heaven and Earth. Her Stories and Hymns from Sumer. New York 1983 (Übersetzung aus dem Englischen ins Deutsche durch die Autorin).


Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Top

Newsletter Abonnieren

We respect your email privacy

Newsletter abonnieren

You have successfully subscribed to the newsletter

There was an error while trying to send your request. Please try again.

Goldspur will use the information you provide on this form to be in touch with you and to provide updates and marketing.