Goldspur

Der Ewigkeit auf der Spur

Inanna und der Hirte, die Wahl der Göttin (9) 

Inanna und Dumuzi (nach einer Tonplatte, Zweistromland, ca. 1800 v. Chr.)

By on 16. Mai 2023

Inanna und Dumuzi (nach einer Tonplatte, Zweistromland, ca. 1800 v. Chr.)

Brautpaar mit angedeuteter Hörnerkrone oder “Königsmütze”, wie sie im späteren Gilgamesh-Epos genannt wird, nach einer Tonplatte (Zweistromland; s. u.) für Inanna und Dumuzi

Inanna und der Hirte: Verlobung mit Dumuzi

Inannas Wahl 

Inanna und der Hirte waren sich schon nähergekommen. Doch nun schmiedet Inanna Pläne für ihre Hochzeit. Wer soll ihr Gemahl werden? Für wen wird sie sich entscheiden? Für den Ackerbauern oder für den Hirten?  

Was bisher geschah (Handlung und Deutungen)

Die Kräfte der Weisheit auf dem Weg in Inannas Stadt

Inanna ist es gelungen, die ME, Kräfte der Weisheit, in ihre heilige Stadt zu bringen, die sie vom Vater erhalten hat. Sie hat damit Durchsetzungsvermögen bewiesen und auch ihre weiblichen Stärken unter Beweis gestellt. In Selbstwirksamkeit hat sie um ihre Liebe gekämpft und gesiegt.
Die nächste Frage, die sich nun stellt, ist somit: Wer wird der künftige Ehemann der jungen Göttin werden?

Inanna und der Hirte im Originaltext  *

Wer wird Inannas Bräutigam?

Inanna sprach:

Bruder, nachdem du mir das Leintuch gebracht hast, […]
Utu, wer wird mit mir ins Bett gehen?

Utu sprach:

Schwester, dein Bräutigam wird mit dir ins Bett gehen.
Er, der aus einem fruchtbaren Schoss geboren wurde,
Er, der empfangen wurde auf dem heiligen Hochzeitsthron,
Dumuzi, der Hirte! Er wird mit dir ins Bett gehen.

Inannas Wahl: der Hirte oder der Ackerbauer, Wolle oder Leinen?

Inanna sprach:

Der Hirte! Ich will den Hirten nicht heiraten!
Seine Kleider sind grob; seine Wolle ist rau.
Ich will den Ackerbauern heiraten.
Der Ackerbauer zieht Flachs für meine Kleider.

Inanna und der Hirte: Kampf um die Beziehung

Dumuzi, der Hirte, sprach zu Inanna:

 Warum sprichst du dauernd vom Ackerbauern? – Warum […]?
– Was hat er, was ich nicht habe? […]

(Sie gerieten in eine Debatte über Dumuzis Herkunft.) Dumuzi sprach:

Inanna, hör auf zu streiten.
Mein Vater, Enki, ist so gut wie dein Vater, Nanna […]
Königin des Palastes, lass uns die Sache durchsprechen.

Das Wort, das sie gesprochen hatten,
War ein Wort des Begehrens.
Mit den ersten Worten des Streites
entstand liebendes Verlangen.

Der Hirte und der Segen der Mutter

Inanna rannte zu ihrer Mutter. Ihre Mutter sprach:

Mein Kind, der junge Mann wird dein Vater sein.
Meine Tochter, der junge Mann wird deine Mutter sein.
Er wird dich wie dein Vater behandeln.
Er wird für dich sorgen wie deine Mutter.
Öffne ihm das Haus, meine Fürstin, öffne das Haus!

Inanna öffnete ihm die Tür.
Das Innere des Hauses strahlt für ihn wie das Licht des Mondes.

Kurzfassung: Utu bringt Inanna das Brautleintuch für ihre Heirat. Nach anfänglichem Zögern entscheidet sie sich für den Hirten Dumuzi (anstelle des Ackerbauern).

Brautpaar, Mesopotamien, ca. 1800 v. Chr

Gott und Göttin mit Hörnerkrone («Königsmütze»), Zweistromland, ca. 1800 v. Chr. [1]

Symbole und Deutungen von “Inanna und der Hirte”

Das Brautleintuch: Zeit zu heiraten

Bruder, wer wird mein Brautbett mit mir teilen?

Utu ermutigt Inanna nun, eine feste Verbindung mit Dumuzi, dem Hirten und “Sohn des Lebens” (des Vaters), einzugehen.
Grund dafür ist gewiss nicht zuletzt die Tatsache des bereits vollzogenen Geschlechtsverkehrs. (Die Passage: «Er wird mit dir ins Bett gehen» könnte vielleicht auch übersetzt werden mit: «Er ist (schon) mit dir im Bett gewesen». (Denn es ist fraglich, ob die Keilschrift überhaupt Zeitformen kannte.)

Utu, Inannas Bruder

Positiver Animus (Sonnengott, Christus-Gestalt)

Utu ist Inannas Bruder und als Gleichaltriger einerseits aus ihrer «Peer-Gruppe», andererseits auch Vertreter der Familie.
Als Sonnengott stellt er zudem eine Christus-Figur dar (mit «Sterben», seinem «Weg durch die Unterwelt» und «Auferstehen» am nächsten Morgen).
Darüber hinaus symbolisiert er auch durch die ganze Mythologie von Inanna hindurch das liebende Bewusstsein, also Inannas positive männliche Anteile (Animus). Er wird auch später, im Rahmen von partnerschaftlichen Auseinandersetzungen zwischen den beiden, wieder eine Rolle spielen.

Der gute Hirte

Wer ist der Hirte Dumuzi? – Gilgamesh, der König!

Dumuzi ist Gilgamesh! Er hat sich vom “verkehrten” Sohn des Vaters (Isimud) zum guten Sohn (Dumuzi) gewandelt (“bekehrt”), indem er nun bereit ist, sich verbindlich in die Beziehung hineinzugeben.

Dabei handelt es sich nicht einfach um eine Randerscheinung in einer alten Geschichte, sondern um den Archetypen des Hirten, welcher die fürsorgliche Seite Gottes darstellt. Diesem kommt in der jüdisch-christlichen Überlieferung eine überaus zentrale Bedeutung zu.

[S. Der gute Hirte in Psalm 23 und in Joh 10, 1-30 (Bibelserver); man beachte die Zahl dieser Bibelstelle: 10 für die erlöste Schöpfung; 1 für Gott als Einheit und Ganzheit und 30 für die göttliche Zahl 3 multipliziert mit der 10.]

Vom Hirten zum guten König und der Gilgamesh-Code

Die Entschlüsselung der Namen anhand der Bedeutung ihrer Silben ergibt die tiefere Bedeutung, welche der Botschaft so vieler Überlieferungen entspricht. Diese handeln alle vom Heldenweg des Menschen zum guten König (zu Königsherrschaft Gottes im eigenen Leben). Der Weg führt über Umkehr zu einem inneren Sterben (Zerbrechen des Egos) auf dem Weg durch die Unterwelt.

 

Dumuzi-Isimud: der gute und der verkehrte Sohn des Vaters

Dumuzi bedeutet, wie schon bei früherer Gelegenheit erwähnt, «Sohn des Lebens». (DUM = Sohn; Zi = Leben). Der Sohn des Lebens stellt den guten, nämlich den gehorsamen Sohn des Vaters dar, der sich gemäss dessen Willen dem Weiblichen hingibt. Er steht damit im Gegensatz zu Isimud, dem «verkehrten» Sohn des Vaters. (Die Silben des Namens als Code für die Funktion: ZI = Leben, DUM = Sohn. (i)ZI-MUD als Umkehrung von DUM(u)ZI) ist der verkehrte Sohn (im Gegensatz zum Sohn des Lebens des Vaters). Der “verkehrte” Sohn geht ins Weibliche ein und nimmt, was er will, ohne Absicht, sich hinzugeben.
Es handelt sich also bei iZI-MUD und DUMu-ZI auf der einen Seite um machtorientierte und konsumierende, auf der anderen Seite hingegen um hingebungsvolle Männlichkeit und damit um die beiden gewichtigen Archetypen des Christus und des Anti-Christus.

Einmaliges Auftauchen von Gilgamesh in der sumerischen Überlieferung

Der Name Gilgamesh für Inannas Initiator (mit dem sie ihren ersten Geschlechtsverkehr hatte) wurde wohl erst anlässlich der babylonischen Niederschrift (also erst viele Jahrhunderte später) eingefügt. Denn das babylonische Gilgamesh Epos selber ist eine Hymne auf den ersten Weltherrscher Sargon von Akkad (der Nachfolgekultur der Sumerer), der in Babylon bereits göttlichen Status erlangt hatte.

[S. Von Sumer bis Babylon – Hintergründe.]

So erscheint Gilgamesh auch nur einmal im Rahmen der sumerischen Überlieferung, nämlich ziemlich am Anfang, wo er als Held in seiner schweren Rüstung den Garten der Göttin betritt (s. Gilgamesh und die Fällung von Inannas Baum). In der Fortsetzung ist dann nur noch von Isimud (als Randfigur) und von Dumuzi als Inannas Mann die Rede.
Dies lässt sich damit erklären, dass die Wandlung des starken Kriegers zum hingebungsvollen Ehemann nicht so recht ins babylonische Narrativ passen will, welches zumindest in den jüngeren Versionen ausschliesslich den (mittels Gewalt) siegenden Helden verherrlichen will (s. nächster Klapptext).

Der Name Gilgamesh als Code: vom Tyrannen zum guten König

Doch es macht Sinn, auch den Namen Gilgamesh (wie bei Isimud und Dumuzi, s. oben) als Verschlüsselung zu sehen, das heisst als Code mit einem Geheimnis, nämlich mit einer tieferen symbolischen und überaus aufschlussreichen Bedeutung. (Im Gilgamesh-Epos enthalten die meisten Namen solche Codes, auch der Name des Mannes, der die Sintflut überlebt hat und in den göttlichen Stand erhoben wurde: s. UtNaPishTim).

Der Name Gilgamesh kann auf die drei Silben KI-GAL-MAESH zurückgeführt werden, die zusammen wiederum auf den Archetypen des Christus hinweisen: GI/KI = Erde; GAL = Unterwelt; MESH/MASH = Diener. So gesehen würde Gilgamesh bedeuten: «Der auf dem Weg von der Erde (Ki) hinab in das Reich der Schatten und der Unterwelt (Gal) zum Diener (Maesh) geworden ist».
Diese Deutung passt auch gut zu Isimud – Dumuzi und ebenso zur inhaltlichen Aussage der ältesten Überlieferungen, sowohl der sumerischen wie auch der babylonischen (bei Letzterer zumindest im Hinblick auf die Symbole).

Umdeutung und Verdrehung der sumerischen Überlieferung im babylonischen Gilgamesh-Epos

Erste Verherrlichung von Gewalt

Doch in Babylon wurde diese “Umkehr” des Königs wieder rückgängig gemacht, denn etwa 5 Jahrhunderte nach der Niederschrift der sumerischen Überlieferung (ca. 1850 v. Chr.) entstand das babylonische Gilgamesh-Epos (zw. 1500 und 1000 v. Chr.).Es stellt eine Umdeutung der älteren sumerischen Mythologie dar, indem Gilgamesh neu als die alleinige Hauptfigur der Mythologie verherrlicht wird, ein draufgängerischer Königgott, der selbst vor dem Himmel nicht zurückschreckt. (S. Das Gilgamesh-Epos, Einführung). 

Diskreditierung der Göttin der Liebe

So wird die Göttin der Liebe (in Babylon heisst sie Ishtar) als Hure abgewertet mit der Begründung, dass sie angeblich «so viele Liebhaber” gehabt haben soll. Gilgamesh zählt sie alle auf: nämlich Gilgamesh, Isimud, Dumuzi, den Gärtnersjungen … Damit will er wohl seine eigenen Untaten rechtfertigen, allem voran die Vergewaltigung von unzähligen Jungfrauen vor deren Hochzeitsnacht unter Berufung auf das «Recht der ersten Nacht», welches dem König gemäss göttlichem Ratschluss zustehen solle, s. Prolog: Gilgamesh – Königgott und Despot).

Der Hirte und der Ackerbauer

Und endlich ist nun also Inannas Initiator und Heldenkönig Dumuzi-Gilgamesh bereit, in eine verbindliche Beziehung mit seiner Göttin zu treten.

Doch in der sumerischen Überlieferung hat die Frau noch immer eine starke Stellung und so ist es nun sie, Inanna, die zögert. Der Grund dafür ist, dass noch ein anderer Bewerber da ist, der Ackerbauer! Dieser scheint offenbar ebenfalls um die Gunst der Göttin zu werben – und würde wahrscheinlich sogar die «standesgemässe» Verbindung darstellen.

Nomaden als Unterschicht in der Kultur sesshafter Ackerbauern und Kleinkönige

Zwei verschiedene Lebenskonzepte

Mit dem Hirten und dem Ackerbauern stehen sich zwei unterschiedliche Lebenskonzepte gegenüber: das Nomadentum und Sesshaftigkeit in Siedlungs- und Städte-Kulturen. Der Umstand, dass Gilgamesh-Dumuzi als «Hirte» bezeichnet wird, weist darauf hin, dass er zu den Nomaden gehörte oder zumindest von diesen abstammte. Inanna hingegen war wohl die Tochter eines ansässigen Ackerbauern, vielleicht sogar eines Kleinkönigs, in dessen Garten Gilgamesh womöglich arbeitete und wo es eben zum Geschlechtsverkehr kam.

Sargon von Akkad: vom Gärtner zum König, dank der Gunst der Prinzessin

Dies wird sowohl durch die spätere akkadische Sargon-Legende wie auch durch das  babylonische Gilgamesh-Epos bestätigt. So erzählt Sargon selbst in seiner “Sargon-Legende“, dass er als Findelkind in einem Weidekorb vom Gärtner des Königs aus dem Wasser gezogen worden war. Weiter sei er Dank der Gunst der Göttin Ishtar (babylonische Göttin der Liebe, =Inanna) zum König aufgestiegen. So konnte er ca. 2300 das erste Weltreich begründen, welches damals vom persischen Golf bis zum Mittelmeer reichte.)

Das Gilgamesh-Epos als Hymne auf den ersten Weltherrscher Sargon von Akkad

Auch im späteren Gilgamesh-Epos, in welchem sich viele Elemente sowohl der sumerischen Überlieferung als auch der Sargon-Legende wiederfinden, wird auf die Liebelei der Göttin der Liebe (die nun Ishtar heisst) mit dem Gärtnersjungen angespielt (s. Die Abwertung der Göttin als Hure).

Das Thema des Königssohns, der im fremden Schloss Aschen- oder Gartenarbeit leistet, wird zum Beispiel auch im Märchen, zum Beispiel in Der Eisenhans aufgenommen.

Im fremden Schloss

Inanna und der Hirte: Beziehung über Leistung

Fürsorglichkeit, Wertschätzung und der Segen der Mutter

Der Hirte hat offenbar nicht nur bei Inanna, sondern auch bei ihrer Mutter Gunst gefunden. So legt sie ihn ihrer Tochter mit diesen Worten ans Herz: «Er wird dich wie ein guter Vater wertschätzen und für dich sorgen wie eine Mutter!
Das mag daran liegen, dass beim Hirten Beziehung und Fürsorglichkeit stärker ausgeprägt sind, indem er sich um die Tiere kümmert und auch achtsam und dankbar mit Mutter Natur umgeht.
Demgegenüber ging es beim sesshaften Ackerbauern bald einmal um Territorium, Profit und Unterwerfung des Weiblichen (der Natur und der Frauen). Damit war (im Zeitraum zwischen Akkad und Babylon, also ab ca. 2200 v. Chr.) auch das Patriarchat geboren.

Der Ackerbauer und der Hirte, Kain und Abel, Sohn des Vaters und Sohn der Mutter

Eigener Verdienst vs. Gnade, Dominanz vs. Beziehung

Die Nomaden leben von dem, was «Mutter Erde» hergibt, in Einklang mit der Natur und in Achtsamkeit gegenüber der Schöpfung. Damit verehren sie die Mutter-Gottheit. Die Ackerbauern hingegen machen sich «die Erde untertan». Sie säen und ernten (mehr als sie brauchen), sie halten Tiere und machen sie nutzbar. Dabei studieren sie den Zyklus der Natur, planen Saat und Ernte und mehren ihre Ressourcen zielstrebig. Auf diese Weise haben sie sich dem Schoss von «Mutter Natur» entwunden und stattdessen dem schöpferischen Bewusstsein («VATER») zugewandt. Somit kann man sagen, dass der Ackerbauer «Sohn des Vaters» und der Hirte «Sohn der Mutter» ist (s. Kain und Abel: Der Ackerbauer und der Hirte).

Ich will den Hirten nicht heiraten!
Seine Kleider sind grob; seine Wolle ist rau.

Feiner Flachs oder kratzende Wolle – reibungslose Beziehungen?

Edle Leine, die in einem aufwendigen Verfahren aus Flachs gewonnen wird, fühlt sich auf der Haut glatt an, während Wolle eher kratzt. Leinen wurde darum auch für Unterkleider verwendet (zum Beispiel der biblischen Priester).

Die unterschiedliche Beschaffenheit der Materialien mag auch ein Bild für die Art der Beziehungsgestaltung sein. Der «reiche» Ackerbauer verwöhnt seine Prinzessin und bietet ihr ein angenehmes Leben. Sie hat jedoch im Gegenzug ihren Platz einzunehmen und Nachwuchs zu bringen. Der Hirte hingegen begegnet ihr auf der Ebene der Beziehung. Sie ist ihm nicht gleichgültig, und er “kratzt” sie, denn er ist emotional involviert und lässt sich auf ihre Gedanken und Empfindungen ein.

Mutter- oder Vaterkultur (Patriarchat)?

Der Hirte gehört wie erwähnt zur Mutter-Kultur, welche die Erde mit ihren Ressourcen achtet und Fürsorglichkeit lebt. Ohne zu werten, zeigt Dumuzi, der Hirte auch, dass es ihn trifft, wenn Inanna aufgrund seiner Herkunft an ihm zweifelt: “Mein Vater, Enki, ist so gut wie dein Vater, Nanna! Königin des Palastes, lass uns die Sache durchsprechen!”
(Nanna als männlicher Mondgott ist ein Hinweis auf bereits etablierte patriarchale Strukturen Babylons, denn der Mond ist mit Weiblichkeit assoziiert.)

Indem er sich emotional involviert, gewinnt also der Hirte, Gilgamesh-Dumuzi das Herz seiner Göttin, und so erwacht gegenseitige Leidenschaft.

Himmelbett

Inanna und der Hirte Dumuzi als moderne Erzählung

Anna:

Bruder, wer wird mit mir ins Bett gehen?

Udo wollte wissen, woher ich den riesigen Blumenstrauss mit den 50 Rosen hätte. Als ich ihm erzählte, dass ich ihn von Gil bekommen hatte, sagte er:
­– Gil … interessant! Neulich traf ich ihn per Zufall. Er scheint sich ziemlich verändert zu haben! Er hat sogar seinen Namen geändert! Statt „Gil“ nennt er sich nun nach seinem zweiten Vornamen, Thomas. Bei unserem Treffen fragte er mich auch nach dir, und seine Augen leuchteten dabei …
– Thomas? Lustig, das bedeutet ja ‚Zwilling’, warf ich ein: das passt doch zu ihm …  zwei verschiedene Seiten!

Inannas Wahl: der Hirte oder der Ackerbauer?

Als Udo lächelte, fügte ich etwas zögernd hinzu:
– Ich bin nicht sicher, ob ich ihm trauen kann…. – Und ausserdem gibt es auch andere Männer, die sich sehr für mich interessieren, zum Beispiel Kai. Er überhäuft mich geradezu mit Zuwendungen und will in seiner Zeitung einen Artikel über mein Projekt bringen …

Nun hob Udo die Augenbrauen und meinte nüchtern:
– Ist ja nicht weiter verwunderlich, dass Männer sich für dich interessieren. Du bist jung und attraktiv! Aber in Herzensangelegenheiten sind Geld, Karriere und Status schlechte Ratgeber. Sie mögen dich zwar blenden, aber was wirklich zählt, ist eine gute Beziehung und die Bereitschaft des Mannes, sich hinzugeben.

Der Hirte: Kampf um die Beziehung

Kurz darauf traf ich mich wieder mit Gil – also mit Thomas ­–, um mich für die Blumen zu bedanken. Dabei stellte ich etwas irritiert fest, dass mein Herz bis zum Hals klopfte. Zudem fühlte ich mich innerlich unsicher. Konnte ich mich diesmal auf ihn verlassen?

Ich wollte seine Hingabe nochmals prüfen, indem ich ehrlich sagte:
– Und wie weiss ich, ob ich dir wieder vertrauen kann? Ich meine, ich will das nie mehr erleben!

Doch Udo hatte recht: Thomas war nicht mehr derselbe. Er antwortete ehrlich und achtsam, ohne mir das Blaue vom Himmel zu versprechen:
– Das kann ich gut verstehen, Anna. Aber es soll jetzt anders werden … Ich will dir alles geben, was ich habe, mein Bestes. Ich will dich lieben, für dich da sein …

Er machte eine Pause, dann holte er tief Luft:
– Anna, willst du mich heiraten?

Mein Herz machte einen Sprung! – Doch zugleich fühlte ich noch immer innere Ambivalenz, darum sagte ich:
– Gil – äh… Thomas! Das kommt jetzt etwas gar überraschend … Ich weiss nicht, ich bin jetzt daran, meine berufliche Zukunft zu planen und will zuerst mit meinem Projekt trittfassen.
– Gewiss! Aber wir können doch unsere Zukunft zusammen aufbauen. Ich denke, wir würden uns gut ergänzen. Ich habe auch Pläne, Pläne für UNS! Lass uns das zusammen durchgehen und besprechen! Ich bin überzeugt, dass dich das interessiert und dass wir beide nur profitieren, wenn wir uns zusammenschliessen.

Der Hirte und der Segen der Mutter

Mir war das alles etwas schnell gegangen und ich fühlte mich plötzlich überfordert mit dem Gedanken, mein ganzes Leben mit Thomas zu teilen. Als ich Mutter davon erzählte, schien sie sich jedoch aufrichtig zu freuen. Sie blickte mich liebevoll an und sagte:
­– Mir scheint, du hast dich doch schon entschieden! Wenn da Leidenschaft in der Beziehung ist und Thomas es wirklich ernst meint … – Natürlich werden da auch Herausforderungen sein, wie immer im Leben. Eure Beziehung wird wachsen und sich entwickeln müssen, das gehört dazu! – Doch wenn er bereit ist, sich zu binden … Was zögerst du da noch?
– Aber Mutter, wie war das denn bei dir?, wollte ich wissen: Ich meine, mein Vater hat uns verlassen, bevor ich ihn kennenlernen konnte …

Inannas Vater, Gott der Luft, ein «verkehrter» Sohn (Isimud)

– Ja, das war so, sagte sie nachdenklich und fuhr fort: Mir geschah dasselbe wie dir. Ich liess mich im Zauber des Augenblicks mit diesem Mann ein und wir schliefen miteinander. Der Unterschied zu dir war aber, dass ich dabei schwanger wurde, mit Udo. Dein Vater versuchte zuerst, in die Verantwortung hineinzustehen. Doch als ich kurz nach Udos Geburt gleich wieder schwanger wurde, mit dir, merkte ich, wie eine Kluft zwischen uns entstanden war und weiterwuchs. Er kam immer später nach Hause mit der Begründung, dass er so viel Arbeit habe. Bald darauf winkte ihm ein Karrieresprung, der aber viele Auslandreisen mit sich bringen würde. Weil ich spürte, dass er nicht bereit war, sich zurückbinden zu lassen, liess ich ihn ziehen.

Der Hirte und gute Sohn des wahren Vaters (des Gottes der Erde)

Sie schüttelte etwas traurig den Kopf, dann blickte sie mich an und fuhr fort:
– Aber bei dir scheint das eine andere Situation zu sein. Thomas meint es allem Anschein nach ernst. Zudem bist du gut ausgebildet. Ihr seid jung und stark und könnt gemeinsam etwas aufbauen.

Also begann ich, mich mit Gil und unseren Plänen auseinanderzusetzen. Es war ein spannender Prozess und ich merkte, dass ich mich gut einbringen konnte und er mir viel Wertschätzung entgegenbrachte. Zudem spürte ich, wie es sich stark anfühlte, zu zweit unterwegs zu sein und bekam wirklich Lust, mit ihm gemeinsam die Herausforderungen zu anzupacken. – Und ja, es fühlte sich auch richtig an, unsere Gemeinschaft in einen verbindlichen Rahmen zu stellen. Wir entschlossen zu heiraten.

Enki sprach zu Inanna:
„Im Namen meiner Macht! Im Namen meines Heiligtums!
Die Me, die du mitgenommen hast,
sollen im Heiligtum deiner Stadt bleiben!

Vater Enki (Gott der Erde) bei den Festlichkeiten [s. letzte Episode]

Ich bat Enrico, mich zum Traualtar zu führen.
Als der Tag gekommen war, legte er stolz und gerührt meine Hand in Gils.

Am Abend hielt er eine Rede:
– Anna, du bist meine Lieblingsnichte. Ich habe dich aufwachsen sehen und mich immer an dir gefreut. Alles, was du anpackst, gelingt dir. Du bist effizient, diszipliniert und kreativ, auch unkonventionell und mutig, darüber hinaus klug und charmant – mit anderen Worten: Du bist einfach perfekt!
So bist du also zu einer verantwortungsvollen Person herangereift, lässt dich nicht von Dämpfern oder Fehlern entmutigen, sondern lernst daraus und überwindest Schwierigkeiten. Es ist dir sogar gelungen, meinen wilden Schützling Thomas zu bändigen, das hätte ich nicht erwartet, dass das möglich ist!

Bei diesen Worten zwinkerte er Thomas zu, der über das ganze Gesicht strahlte:
– Ich wünsche euch beiden alles Gute für die Zukunft, viel Erfolg, Freude, Liebe… und auch Geduld! – Wenn ihr etwas braucht, ich bin für euch da!

Als Hochzeitsgeschenk überreichte er uns einen Umschlag. Darin befand sich ein Scheck mit einer grossen Summe für unser gemeinsames Projekt.

Wir feierten ein rauschendes Fest. Ich freute ich mich auf unsere erste Nacht – als Mann und Frau!
Der Himmel war offen über uns!

Nachweise:

* Originaltext, Übersetzung aus dem Sumerischen ins Englische: S.N. Kramer in WOLKSTEIN, DIANE / KRAMER SAMUEL NOAH. Inanna, Queen of Heaven and Earth. Her Stories and Hymns from Sumer. New York 1983 (Übersetzung aus dem Englischen ins Deutsche durch die Autorin).

[1] Gott und Göttin mit Hörnerkrone («Königsmütze») aus Wolkenstein/Kramer, S. 30 und 184: Tonplatte aus gebranntem Ton. Diqdiqah in der Nähe von UR (U17604) Mesopotamien, Isin-Larsa-Periode Babylons, ca. 2000 bis 1600 v. Chr., London, British Museum BM 123230


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