Goldspur

Der Ewigkeit auf der Spur

Ritter Georg und die Jungfrau – ganzer Märchentext

John Bauer: "Mit losen Zügelns sprengte Georg vorwärts."

By on 29. Dezember 2020

John Bauer: "Mit losen Zügelns sprengte Georg vorwärts."

Georgs Heldenweg zu Ganzheit – eine nordische Sage

Direkter Start ins Märchen, 1. Episode:
Das Thema (7): die Jungfrau für Ganzheit

Einleitende Gedanken

Sankt Georg

Der «heilige» Georg, der Drachentöter, wird in den meisten Abbildungen mit einem roten Mantel und einem weissen Pferd dargestellt. Mit seinem langen Schwert erschlägt er einen furchterregenden Drachen und gewinnt so die Jungfrau, die im Hintergrund auf ihn wartet (s. auch Wikipedia).

Der Weg des Helden in der nordischen Überlieferung

Ein schwedisches Märchen handelnt von denselben Symbolen. Es beschreibt aber den Weg des Helden als Ganzes, von seiner Jugend bis ins reife Alter. Es wird erzählt, wie er im Lauf seines Lebens das Schwert, den roten Mantel, das weisse Pferd gewinnt. So erreicht er das hohe Ziel: die Jungfrau in der Burg der rosigen Wolken.

Die Erzählung nimmt dabei Bezug auf die drei Farben Weiss, Rot und Schwarz und folgt der Struktur des Heldenweges.

Der schwedische Originaltitel lautet: “Die Jungfrau in der Burg der rosigen Wolken” („Jungfrun i rosiga molnens borg“ von Harald Östenson, aus “John Bauers Sagovärld”). Die Geschichte wurde durch die Autorin übersetzt und frei nacherzählt. Der Held dieser Geschichte wird Georg genannt, in Anlehnung an den heiligen Georg. 

Das Titelbild, ein Gemälde von John Bauer, wurde fototechnisch erweitert (Originalformat am Ende des Artikels). Die Wolken erscheinen so als Dreieck, das nach oben, in den Bereich des Geistes weist.

Die Name “Rosenburg” im Titel erscheint tauglich, denn die Rose ist die Blume des Mannes (die Lilie die der Frau).

Ritter Georg und die Jungfrau der Rosenburg

Georgs Vision

Die Jungfrau in der Burg der rosigen Wolken

Den ganzen Tag hatten sie gearbeitet, bis zum Sonnenuntergang. Nun waren alle nach Hause gegangen. Aber Georg, der Jüngste, war hier nicht zu Hause, sondern war ein Tagelöhner. Er legte sich hin, schob etwas Heu unter sein Haupt und schlief tief und gut.
Als seine Müdigkeit nachliess, begann er zu träumen. Da sah er eine junge Frau in weissem Kleid, die langsam auf ihn zuschritt. Ihre Augen leuchteten wie Sterne und sie hatte etwas Reines und Erhabenes, so dass der Jüngling nicht wusste, ob sie ein Mensch oder ein Engel war

– Wer bist du? fragte Georg.
– Ich bin die Jungfrau der Rosenburg in den Wolken, antwortete sie.
– Wer dich gewinnt hat Freude und keine Sorgen, sagte er.
– Suche mich, so wirst du mich finden! Willst du mich finden, musst du Hindernisse überwinden!, antwortete die junge Frau und schon war sie verschwunden.

Der Jüngling war nun hellwach, sprang auf und blickte sich eifrig um. Doch er konnte sie nirgends mehr entdecken.

 Start ins Märchen, Deutung und Neuerzählung:
Die Vision – Georgs Traum von der Jungfrau

Der Weg zu Ganzheit Weiss – Rot- Schwarz 

Auf der Suche

Georg zog weiter durch die Welt, arbeitete wo es Arbeit gab und schlief, wo er einen Schlafplatz fand. Wo er hinkam, erkundigte er sich nach der Rosenburg in den Wolken, wo die Jungfrau wohne. Dabei wurde er ausgelacht und verspottet:
– Du lebst wohl selber etwas in den Wolken – Bist anscheinend ein bisschen übergeschnappt …? lachte der Eine.
– Ein hohes Ziel im Leben, welches du dir da gesteckt hast…, sagte ein Anderer und klopfte ihm höhnisch auf die Schulter.

Unterkunft bei der alten, weisen Frau

Auf der Suche nach einer Unterkunft gelangte er eines Tages im Wald zu einer kleinen, schäbigen Hütte, in der eine uralte Frau wohnte. Sie bot ihm ein Lager an und er teilte seine Verpflegung mit ihr, denn er sah, dass sie wenig hatte. Georg fragte auch sie nach der Jungfrau der Rosenburg.

– Lange ist es her, dass mich jemand danach gefragt hat, sagte die Alte. Ich weiss den Weg nicht, auch wird es nicht einfach sein, dahin zu gelangen, wenn man nur zwei leere Hände hat. Wenn ich mich recht an das alte Lied meiner Kindheit erinnere, dann werden merkwürdige Dinge verlangt für diese Reise.

Der Weg zu Ganzheit – Weiss / Rot / Schwarz

Sie dachte nach, dann begann sie zu summen. Sie sang leise eine alte Weise: 

Willst du die Jungfrau finden
musst du Hindernisse überwinden.
Du brauchst den Apfelschimmel
der dich trägt die zum Himmel,
den Mantel rot wie Blut,
der dich schützt vor Feuer und Glut,
und das lange Schwert Galle, das lange,
das erschlägt die Drachenschlange.

– So war das, sagte die alte Frau. Diese Reise schlägst du dir wohl am besten aus dem Kopf.

Ja, dachte Georg, weder weiss ich, wo ich diese wunderbaren Sachen kaufen kann, noch habe ich etwas, womit ich sie kaufen könnte.
Die ganze Nacht träumte er vom Apfelschimmel, vom roten Mantel und vom Schwert Galle.

Er blieb noch eine Weile bei der Alten, half ihr, die Hütte in Stand zu stellen, und versorgte sie mit Brennholz für den Winter. Dann zog er weiter.

Weiss – Rot – Schwarz (Episode 1 mit Deutung und Neuerzählung) 
(In Analogie zu Phase 1 des Heldenweges: Berufung / Bewusstwerdung)

Georgs Kampf gegen die Drachenschlange 

Die Drachenschlange

Drei Jahre waren vergangen, als sein Weg ihn eines Abends in ein wildes, unwegsames Gebirge führte. Überall öffneten sich Kluften.
Plötzlich hörte er einen verzweifelten Schrei. Er stammte von einer alten Frau, welche vor einer riesigen Drachenschlange floh. Die Haut des Untieres bestand aus dicken Panzerplatten, der Rücken war von einer Reihe kräftiger Stacheln gesäumt.
– Nun könnte ich das Schwert Galle gebrauchen, dachte der Jüngling.

Doch weil er kein Schwert hatte, zog er stattdessen seinen Dolch hervor.
– Ich kann nicht zulassen, dass die Schlange die Frau auffrisst. Vielleicht kann ich mit dem Dolch durch das Auge ins Gehirn des Untiers dringen und es so erlegen.

John Bauer: Georg und die Drachenschlange

Das Schwert Galle

Das Ungeheuer wandte ihm sein schreckliches Haupt zu und es sah aus, als würde es sowohl Georg wie auch den Dolch verschlingen. Doch gerade als die Drachenschlange ihm ganz nahegekommen war, fühlte der junge Mann etwas Wundersames in seiner Hand: Der Dolch war verschwunden und er hielt stattdessen ein langes Schwert mit glänzender Klinge in seiner Hand. Gerade rechtzeitig hieb er auf die Schlange ein, die sich mit Todeszuckungen zusammenrollte.
– Dies muss die Drachenschlange gewesen sein und dies hier ist gewiss das Schwert Galle. Er blickte sich um und entdeckte seinen Dolch, der auf der Erde lag
– Da ich dieses Schwert nun erhalten habe, ist es wohl meines, dachte Georg. Darum nehme ich es mit.

Auf seiner Wanderung hatte er immer wieder einmal die Gelegenheit es zu gebrauchen und etwas Gutes damit zu machen.

Die Drachenschlange (Episode 2 mit Deutung und Neuerzählung)
(In Analgoie zu 2. Phase des Heldenweges, Initiation)

Das brennende Haus und der rote Mantel

Georg und der gelähmte Vater

Sechs Jahre war Georg bereits im Besitz des Schwertes gewesen, als er eines Tages in ein Dorf kam. Da herrschte ein grosser Tumult, denn das grösste der Häuser stand in Flammen. Jemand schrie:
– Dort im obersten Stockwerk, ist der alte lahme Vater Lars, man hat ihn vergessen!

Die längste Leiter war verbrannt und die anderen reichten bloss bis zwei Stockwerke darunter. Der Jüngling stürzte die Treppen des Hauses empor. Das Volk sah im Fenster, wie er den Alten wie ein Kind auf seine Arme nahm und gleichzeitig die Flammen über den beiden zusammenschlugen.
– Verloren sind sie, alle beide, ruft jemand.

Doch kurz darauf kam er herausgestürmt mit dem Lahmen im Arm.

Der rote Mantel

Zum Erstaunen aller waren sie beide unversehrt. Um sie wehte ein weiter, roter Mantel.

Das Volk jubelte. Georg selber wunderte sich: „Wie kam ich bloss heil durch Feuer und Glut?“ Da sah er den roten Mantel um sich herum.
– Oh, das muss der Mantel sein, der gegen Feuer und Glut schützt, wie das Lied erzählte. Nun habe ich also beide, das Schwert und den Mantel. Aber wer kann es sein, der mir genau das gibt, was ich brauche, im Augenblick der Not?
Er hatte aber keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, denn die vornehmsten Leute der Stadt kamen, um sich bei ihm zu bedanken.

Der rote Mantel (Episode 3 mit Deutung und Neuerzählung)
(In Analogie zur 3. Phase des Heldenweges: Wüste)

Das weisse Pferd: Leidenschaft für das Gute

Die Jahre vergingen, er wanderte umher und führte sehr tüchtig Arbeiten und Aufträge aus. Weitere Auskünfte über die Burg in den rosigen Wolken erhielt er jedoch keine, obwohl er sich überall danach erkundigte.

Der treulose Gefährte

Neun Jahre hatte er den Mantel getragen, da befand Georg sich wieder in einer gebirgigen Gegend. Doch diesmal war er nicht alleine, sondern führte einen Freund mit sich, der ihn schon eine Weile begleitet hatte. Sein Gefährte hatte ihn immer wieder nach dem Geheimnis des Schwertes und des Mantels gefragt, bis er ihm eines Tages alles erzählte.

Als er am nächsten Morgen erwachte, war der Gefährte verschwunden – und mit ihm Schwert und Mantel!
– Ich bin von meinem besten Freund bestohlen worden, dachte er und zog besorgt weiter.
Da erblickte er von weitem seinen falschen Kameraden mit dem Diebesgut.

Das Schicksal greift ein – eine Notlage

Da geschah plötzlich etwas Sonderbares. Der Mantel breitete sich aus wie ein paar mächtige Flügel und hob den Gefährten in die Luft. Dies alles vollzog sich offensichtlich gegen dessen Willen, denn er schrie und strampelte um loszukommen – jedoch ohne Erfolg. Er war wie ein Hase in den Klauen eines Adlers.

Der furchterregende Flug führte nun über den Abgrund einer breiten Felskluft. Auf der anderen Seite liess ihn der Mantel aus der Höhe fallen. Der Gefährte schlug derart hart auf dem Boden auf, dass er das Bewusstsein verlor.
– Wenn ich ihn liegen lasse, wird er verbluten, dachte Georg, doch wie komme ich über die Felskluft zu ihm hinüber? Ich muss versuchen zu springen! Es gibt keinen anderen Weg.

Das Pferd

Er sammelte seine ganzen Kräfte, nahm einen Satz und sah – mitten im Sprung – dass es nicht reichen würde.
Schon schloss er die Augen und erwartete, auf dem Grund aufzuschlagen…
Da spürte er plötzlich etwas unter sich: Er auf dem Rücken eines Pferdes! Er öffnete die Augen und sah einen Apfelschimmel, der wie ein Pfeil mit ihm über die Kluft flog.

Beim Gefährten angelangt begann er sofort, seine Kleider zu zerreissen, um dessen Wunden zu verbinden. Erst als die Blutung gestillt war, blickte er um sich und sah das Pferd, das neben ihm stand und ihn anblickte. Das Schwert und der Mantel lagen auf dem Boden.
– Der Apfelschimmel für den Weg in den Himmel… Das muss er sein!, sagte er sich.
Er legte den Mantel über seine Schultern, umgürtete sich mit dem Schwert und legte den Verletzten vor sich auf das Pferd. Im nächsten Dorf umsorgte er den treulosen Freund so lange, bis dieser wieder vollständig hergestellt war.

Das weisse Pferd (Episode 4. und 5 mit Deutung und Neuerzählung)
(In Analogie zur 4. und 5. Phase des Heldenweges, Erfolg und Feuerprobe)

Der schwarze Riese, das letzte Hindernis 

John Bauer, Die Burg in den rosigen Wolken

Die Burg erscheint

Es folgten viele lange Jahre. Georgs Wangen wurden zerfurcht, sein Haar wurde grau, er stand viele Mühen und harte Kämpfe aus. Doch nie hatte er aufgehört, sich nach der Rosenburg zu sehnen.
Und endlich, eines Abends, sah er in der Ferne die goldene Burg in den rosigen Wolken. Mit losen Zügeln sprengte er vorwärts. Vor ihm erschien bereits der silbern schimmernde Pfad, der durch die Wolken hinauf zur Burg führte.

Der schwarze Riese

Da erhob sich ein Riese mit feuerflammenden Augen und einer gewaltigen Faust, gross genug, um Pferd und Reiter zu zermalmen vor ihm.
Keinen Augenblick empfand der Held so etwas wie Furcht, vielmehr lenkte er sein Pferd geradewegs auf den Riesen zu. Der Apfelschimmel stellte sich auf die Hinterbeine und legte kampflustig die Ohren nach hinten. Aber in dem Augenblick, als der Georg nach seinem Schwert greifen wollte, war der Riese verschwunden.

Die Burg in den rosigen Wolken und die Jungfrau

Auf dem luftigen Weg in den Wolken unter jubelnder Freude ritt er geradewegs zur goldschimmernden Burg.

Eine Brücke war heruntergelassen und im Innenhof kam ihm die Jungfrau mit den strahlenden Sternenaugen in ihrer jugendlichen Schönheit entgegen.
Sie reichte ihm ihre Hand und sagte:
– Du hast sämtliche Hindernisse überwunden – und mich gefunden!
Der Held stiess einen tiefen Seufzer aus und antwortete:
– Aber ach, warum dauerte es so lange? Nun bin ich alt und grau.

Sie lächelte und hielt ihm einen silbernen Spiegel entgegen. Er blickte hinein und sah sich selber: Er war wieder ein schöner Jüngling von hoher geschmeidiger Gestalt mit runden, rosigen Wangen.

Hand in Hand gingen sie in die Burg hinein.

Aber die Sage vom Jüngling, der hoch hinaus wollte, und der Jungfrau in der himmlischen Burg der rosigen Wolken ist noch nicht zu Ende. Diese Sage endet nie.


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