Verschiedene mythologische Aspekte der Anima
Die Anima kann unterschiedliche Gestalt annehmen und entspricht dabei auch den Lebensphasen des Helden und den Aspekten der grossen Mutter-Gottheit (dazu s. Weibliche Ganzheit – die Göttin, Weiss / Rot / Schwarz):
Die Anima als Jungfrau, Prinzessin und ihr Königreich
So erscheint sie als helle oder dunkle Jungfrau (wie Lilith). Neckisch und verspielt berührt sie als Prinzessin das Herz des jungen Mannes (wie in Der Eisenhans oder Aladdin und die Wunderlampe) oder verführt ihn dazu, sämtliche Weisheit und Vorsicht zu vergessen. Die Jungfrau beflügelt in der Erzählung den edlen Ritter Georg ein Leben lang zu guten Taten und führt ihn so zu Ganzheit.
Die Jungfrau-Prinzessin ist das hohe Ziel des Helden, denn mit der Hochzeit gewinnt er auch ein ganzes Königreich. Dieses steht für Königsherrschaft, das heisst Selbstwirksamkeit im eigenen Leben. Als innere Frau verbindet die Anima den Mann mit seinen weiblichen Persönlichkeitsanteilen, also mit seiner Seele (seinen Gefühlen) und mit dem Geist (hingebungsvoller Liebe). So erlangt er Ganzheit und das ewige Leben (symbolisiert durch Gold; s. Die heilige Hochzeit).
Schlangenzunge als der üble Berater des Königs
In negativer Gestalt tritt die Anima jedoch zum Beispiel als «Schlangenzunge» auf. Als intriganter Berater blockiert und lähmt er «König Bewusstsein» durch Lügen und setzt ihn durch Intrigen ausser Gefecht. (S. Das dritte Auge und der Schatz des Königs.)
Zornige Weiblichkeit und die innere Frau als Drache oder rasender Stier
Wird Weiblichkeit nicht integriert, kann sie als ausgewachsene Negativität in der Gestalt einer Drachenschlange oder eines rasenden Stiers von Machtmenschen Besitz ergreifen, sie geldgierig und grausam machen. So war interessanterweise der Drache das Symbol des Kaisers von China. Auch der rasende Himmelsstier spielt bereits im Gilgamesh-Epos eine Rolle, weiter in Mythen (wie der griechische Minotaurus) oder auch in Märchen und Erzählungen wie «Das letzte Einhorn» (s. Der Stier als weibliches Symbol und der Stierkult).
Positive Weiblichkeit und Geborgenheit im Schoss von Mutter Natur
Aber auch starke, weise Weiblichkeit hat in den Überlieferungen ihren Platz, wenn auch häufig in verborgener Form. So ist es auf der einen Seite immer wieder die alte, weise Frau, die dem Helden oder der Heldin den Weg weist (wie in Georg, dem Drachentöter oder in der Schneekönigin). Und als gute Fee (in Aschenputtel) oder Frau Holle belohnen sie die Hingabe der Heldin.
Auf der andern Seite erscheint starke Weiblichkeit auch als Orakel, das in Rätseln spricht und nur von jenem Helden verstanden wird, der aufrichtigen Herzens ist. Diese Gestalten sprechen eine Weisheit aus, die eins ist mit der grossen Mutter als Schicksalsgottheit und Herrin über Leben und Tod.
Gegen Letztere kämpft denn auch der egoistische Herrscher vergebens an und scheitert. Doch der wahre Held als der suchende Wanderer findet nicht zuletzt in der Grandiosität der Natur eine neue Geborgenheit und lebendige Fülle, wie sie dem Schoss der grossen Mutter-Gottheit entspricht.