Goldspur

Der Ewigkeit auf der Spur

Inannas Rettung durch den Vater und Auferstehung (Episode 15)

Inannas Rettung durch den Vater

By on 5. Dezember 2023

Inannas Rettung durch den Vater

Zur Symbolik der Illustration:

Inannas Rettung durch den Vater führt zur Wiedergeburt und zur Auferstehung der Liebe. Dabei erscheint das Licht im Bild in der Form des zunehmenden Mondes, Symbol für den jungfräulichen Aspekt der Göttin. Der Stein im Inneren symbolisiert den Leermond, Symbol für die Herrin der Unterwelt (3. Aspekt der Göttin). Zudem hat er auch die Form eines schwangeren Bauches, aus welchem das Neue hervorgeht.

Rettung durch den Vater und Auferstehung (Episode 15)

Samen der Hoffnung

Inannas Rettung durch den Vater geschieht auf sonderbare Weise. Er kramt etwas Schmutz unter seinen Fingernägeln hervor und erschafft daraus zwei winzige Wesen, welche durch die Tore der Unterwelt fliegen …

Inannas Rettung durch den Vater im Originaltext *

Was zuletzt geschah:

Mitfühlende Offenheit zur Rettung durch den Vater

Als Vater Enki, der Gott der Weisheit hörte, dass Inanna seit drei Tagen nicht mehr aus der Unterwelt zurückgekehrt war, rief er:

Was ist geschehen? Was hat meine Tochter getan?
Inanna! Königin aller Länder! Heilige Himmelspriesterin!
Was ist geschehen?
Ich bin besorgt. Ich bin voll Trauer.

Die Lösung des Vaters

Unter seinen Fingernägeln klaubte er etwas Schmutz hervor und formte daraus zwei kleine Wesen, Kurgarra und Galatur, weder männlich noch weiblich. Das Brot des Lebens gab er Kurgarra und das Wasser des Lebens gab er Galatur.

Deutungen und Hintergrundgedanken

Schmutz unter den Fingernägeln: das Tabu

Zuwendung, Ruhe und Gelassenheit des Vaters im Umgang mit dem Tabu

Unreinheit: schmutzige Fingernägel

Der Schmutz unter den Fingernägeln ist ein starkes Bild für Unreinheit und wird in vielen Kulturen harschen Regelungen unterworfen. – Man weiss ja nicht, was da drunter alles klebt und wie lange es da schon vor sich hin mottet … Später im Text werden die beiden Wesen auch mit Fliegen verglichen.

Das Weibliche in der Unterwelt als Tabu

Ebenso wenig «salonfähig» ist das Thema der Unterwelt, der Schatten und des Reiches des Todes. Hierzu gehört auch aufgebrachte Weiblichkeit, die ein Drama inszeniert. Denn derartiges wird als lästig oder gar peinlich abgetan und in den Schatten verbannt, mit dem sich der Normalsterbliche lieber nicht auseinandersetzen möchte.

Doch nicht so der Vater: Er schaut hin, hört zu und tut dabei … zunächst einmal einfach nichts. – Gar nichts, könnte man meinen … Ausser, dass er anscheinend gedankenverloren seine Aufmerksamkeit auf ein bisschen Schmutz lenkt … Er grübelt – im wahrsten Sinne des Wortes.

Und siehe da: der Schmutz, den er hervorbringt, hats in sich … Er lebt!
– Ebenso wie die Unterwelt nicht einfach das Reich der Toten ist, sondern Leben enthält.

Es braucht vom Mann nicht viel, "nur" Zuhören und Empathie!

Weniger ist mehr! Keine Lösungen!

Es erscheint dem Mann schwer verständlich, dass dies das Richtige sein soll: Nichtstun! Zuhören, schweigen, hier ein zustimmendes Hm … oder oh ja … oder oh … Und vielleicht höchstens noch ein: Das tut mir leid …
Aber Lösungen sind nicht gefragt!

Was denn sonst? – Um Himmelswillen?!?

Der Vater tut nichts, sondern blickt dabei auf seine Fingernägel, unter denen noch etwas Schmutz hängt, Rückstände von seinem Tageswerk … Von den Dingen, die er fassen kann … Die Verfassung seiner Königin hingegen … Was kann er hier schon ausrichten? Nichts! Denn sie ist selber stark. Das weiss der Vater.

Liebevolle Präsenz

Darum genügt seine Wahrnehmung, seine Präsenz. Dabei bewirken allein die Anerkennung der Wahrheit, dass sie etwas zu tragen hat und die Empathie das Wunder! Denn sie sind Ausdruck der Liebe, die auch das Schlimmste ertragen kann und geben der Königin die Kraft und Zuversicht, die neue Realität hervorzubringen.

Mitfühlende Empathie ist auch in Parzival das Thema. Erst nachdem er selber gescheitert ist, kann er mitfühlend sein und ist darum würdig, Gralskönig zu werden. [S. Der weibliche Schoss als Gral und Christus / Messias, der Gesalbte.]

Kurgarra und Galatur (KurGalla und GallaKur)

Rettung durch den Vater mit Brot und Wasser des Lebens

Wer sind die beiden Wesen? 

Samen der Hoffnung!

Sie sind Samen, Samen der Hoffnung, Hoffnung auf neues Leben …
Der Vater gibt seine Samen der Liebe in das grosse Weibliche hinein, welche neues Leben und neue Realität hervorbringen kann. Als Samen sind sie natürlich winzig klein. Und natürlich finden sie ihren Weg in die Unterwelt, ins Innerste der Existenz, wo sie den Code für das Neue hineinbringen.

Die Rettung aus der Unterwelt: Tour – Retour 

Der Name der beiden Wesen ist wohl am besten mit: Abstieg in die Unterwelt und Aufstieg aus der Unterwelt zu übersetzen.

Kurgarra und Galatur, Wortdeutung: Abstieg von der Erde in die Unterwelt und Aufstieg

Die sumerische Sprache war wohl eine tonale Sprache, darum war die Aussprache der Konsonanten häufig unklar (wie heute zum Beispiel im Chinesischen R-L). Auch haben sich Lautverschiebungen ergeben (K-T?; s. Notizen zur sumerischen Sprache). Doch an dieser Stelle erscheint es aus dem Gesamtkontext nichts als logisch, dass die beiden Wesen eigentlich KurGalla und GallaKur heissen: KUR für das Land, die Erde (auch GU) und GAL für die Unterwelt.

Die Namen der kleinen Wesen können also so gedeutet und übersetzt werden:

  • KurGalla: Abstieg von der Erde (Kur) in die Unterwelt
  • GallaKur – Aufstieg von der Unterwelt zurück auf die Erde

 

Der Abstieg in die Unterwelt und der Aufstieg aus der Unterwelt gehören zu den geistigen Kräften der Weisheit, zu den ME. Der Vater selbst hat den Abstieg in die Unterwelt schon gemacht (s. Prolog II: Der Vater wagte den Weg in die Unterwelt.)

Weder männlich noch weiblich? Beide haben beides!

Weshalb wird im Urtext ausdrücklich betont, dass die beiden Wesen weder männlich noch weiblich sind?

Beide, Mann und Frau, haben beides, nämlich männliche und weibliche Anteile. Der Körper ist eher mit «männlich» in Verbindung zu bringen, die Seele mit «weiblich».

Ebenso gilt auch der Weg der Läuterung, symbolisiert durch den Weg durch die Unterwelt, für beide, für Mann und Frau. Es handelt sich um die fünfte Phase des Heldenweges, die Feuerprobe, welche den Weg durch die Unterwelt bedeutet. Auf diesem Weg integriert das Männliche die weibliche Seite des Geistes (die Seele und die Liebe), und das Weibliche integriert Kraft im Körper und in der Materie).

Läuterung auf dem Weg durch die Unterwelt

Diese Deutung der Namen der beiden Wesen (Abstieg in die Unterwelt und Aufstieg aus derselben) wird durch die Gaben, die sie mitbringen, bestätigt: Brot und Wasser des Lebens. Brot für den Samen, der in die Erde fällt, und Wasser für Lebenskraft, die in der feuchten Erde aufkeimt, zum Licht hinstrebt und Frucht bringt.

Samen (männlich) zu Brot und Wasser (weiblich) zu Wein: Läuterung

Das (tägliche) Brot des Lebens: “männliche” Samen zu Brot

Samen als Symbol für körperliche Lebensenergie werden gedroschen, gemahlen und im Feuerofen der Enthaltsamkeit zu nährendem Brot für andere gebacken, täglich neu. So wird die männliche körperlich-sexuelle Lebensenergie geschunden, geschlagen und im Feuerofen der Enthaltsamkeit geprüft, gereinigt und geniessbar gemacht.

Wasser des Lebens: das Wasser der Seele zu Wein/zu Blut – der Weg des Weiblichen

Das Wasser (weiblich) wird in Früchten zu Saft. Saft von Trauben, rot wie Blut, wird gekeltert, ausgepresst und reift im dunklen Fass zu Wein (Geist) heran.

So reift überfliessende emotionale (weibliche) Energie, die im Inneren behalten wird, in der dunklen Nacht der Seele zu Geist heran. Oder – anders formuliert – wird es im dunklen Fass im Keller des Lebenshauses, in der Unterwelt – zu Freuden spendendem Lebenswasser – Eau de Vie – (lateinisch Spiritus für Geist – Sprit).

Brot und Wasser des Lebens sind Symbole für Läuterung, welche die Feuerprobe des Menschen auf dem Weg durch die Unterwelt darstellt.

[S. Läuterung: Brot und Wasser des Lebens (Brot und Wein).]

Brot und Wein für Läuterung

Die nackte und schmerzhafte Wahrheit

Liebende Annahme und Vertrauen – die Rettung durch den Vater

Der liebende Vater sieht, was ist und weiss, was es braucht:

Die Königin der Unterwelt in Wehen

Und Enki sprach:

Ereshkigal, die Königin der Unterwelt,
stöhnt mit Schreien einer Gebärenden.
Kein Leintuch ist über ihren Leib gebreitet,
ihre Brüste sind unbedeckt.
Ihre Haare stehen wie Lauchstangen um ihren Kopf.

Der Sinn der Schmerzen: Wehen für die Geburt des Neuen

Der liebende Vater sieht die Not, die dem Zorn der Göttin der Unterwelt zugrunde liegt. Er nimmt sie in ihren Schmerzen wahr und mehr noch: Er ordnet diesen einen Sinn zu! Denn er weiss: Es sind die Wehen der Geburt des Neuen.

So weiss und vertraut der Vater, dass aus dem Schmerzhaften Neues wachsen wird. Denn dies ist das Gesetz der Unterwelt, der grossen Mutter.

Was kann dieses Neue sein?

Es ist die Auferstehung, ja die Wiedergeburt der Göttin der Liebe! –
Und damit leuchtet ein Hoffnungsschimmer auf.

Rettung durch den Vater mittels Empathie

Dabei gab Enki den kleinen Wesen sehr spezifische Anweisungen: „Geht durch die Tore der Unterwelt wie Fliegen …“.

Die Wahrheit bejahen

Wenn sie schreit: „Oh! Oh! Mein Inneres!“
Schreit ebenfalls: „Oh! Oh! Mein Inneres!“

Wenn sie schreit: „Oh! Oh! Mein Äusseres!“
Schreit ebenfalls: „Oh! Oh! Mein Äusseres!“

Das wird die Königin freuen.

Inannas Rettung durch den Vater: Brot und Wasser des Lebens

Sie wird euch ein Geschenk anbieten.
Verlangt nur nach dem Leichnam vom Haken an der Wand.
Eines von euch wird ihn mit Brot des Lebens besprengen.
Das andere wird ihn mit dem Wasser des Lebens besprengen.
Inanna wird auferstehen.

Die beiden gelangten zu Ereshkigal und taten, wie EnKi ihnen gesagt hatte:

Ereshkigal stöhnte:
Sie stöhnten:

Ereshkigal stöhnte:
Sie stöhnten:

Ereshkigal ächzte:
Sie ächzten:

Ereshkigal ächzte:
Sie ächzten: 

Ereshkigal seufzte:
Sie seufzten:

Ereshkigal seufzte:
Sie seufzten:

Oh! Oh! Mein Inneres!
Oh! Oh! Dein Inneres!

Oh! Oh! Mein Äusseres!
Oh! Oh! Dein Äusseres!

Oh! Oh! Mein Bauch!
Oh! Oh! Dein Bauch!

Oh! Ohhhh! Mein Rücken!
Oh! Ohhhh! Dein Rücken!

Ah! Ah! Mein Herz!
Ah! Ah! Dein Herz!

Ah! Ahhhh! Meine Leber!
Ah! Ahhhh! Deine Leber!

Es ist wahrhaft eindrücklich zu sehen, wie die sumerische Überlieferung diesem Prozess viel Raum gibt und …

Oh, wie befreiend, dass mich jemand in meinem Elend wahrnimmt und annimmt!

Und wie erlösend, dass ich aussprechen darf, was ich fühle, und mehr noch: dass ich sein darf, wer ich bin und wie ich bin!

Und wie hoffnungsvoll, dass jemand mich sieht. Nicht nur, was ich bin, sondern auch, was ich sein werde. Jemand sieht Gute, das aus dem entstehen wird, was ich jetzt gerade durchmache, die Geburt des Neuen!

Darin liegt Heilung! Negativität löst sich in grosszügiger Dankbarkeit auf, nur schon aufgrund des Umstandes, dass sie durch das liebende Bewusstsein wahrgenommen wird!

Die Dankbarkeit der Mutter

Zorn weicht der Grosszügigkeit: Inannas Rettung zur Auferstehung

Ereshkigal hielt inne. Sie blickte sie an. Sie fragte: „Wer seid ihr, die ihr mit mir stöhnt, ächzt und seufzt? – Wenn ihr Götter seid, will ich euch segnen, wenn ihr Sterbliche seid, will ich euch eine Gabe geben: die Wasser-Gabe, den Fluss in seiner Fülle oder die Korn-Gabe, Felder, reif zur Ernte …“
Sie antworteten: „Sie sind nicht, was wir wünschen. – Wir wünschen den Leichnam, der da am Haken hängt.“
Ereshkigal sagte: „Der Leichnam gehört Inanna.“
Sie sagten: „Ob er unserer Königin gehört oder unserem König, er ist, was wir wollen.“ Der Leichnam wurde ihnen gegeben. Sie sprengten das Brot des Lebens und das Wasser des Lebens auf ihn.

Inanna stand auf.

Zu den komplexen Aussagen dieses Abschnitts in Kürze
  1. Mit-fühlende Wahrnehmung, Empathie freut die Königin. Es ist die Liebe des Vaters, Vaterliebe, welche der Frau hilft, Schwäche zu integrieren und sich zu versöhnen (s. Die Integration von Anima und Animus).
  2. Segen für Götter: Wer auf dem Weg durch die Unterwelt Ganzheit erreicht hat, wird Segen, Fülle und Gelingen erfahren.
  3. Die Korn- und Wassergabe für die Sterblichen: Sie werden auf den Weg durch die Unterwelt geführt und dabei das Brot und das Wasser des Lebens gewinnen, welches ihnen den Zugang zum ewigen Leben schenkt.
  4. EreshKiGal ist im Besitz der Korn- und die Wasser-Gabe und verfügt damit – ebenso wie auch der Vater! – über das Brot und Wasser des Lebens! Als die grosse Mutter hat sie ihre männlichen Anteile integriert (wie der Vater seine weiblichen). So sind sie und der Vater eins in Liebe. [S. Gott, Ganzheit, 3-in-1, männlich und weiblich und Ruach, Geist Gottes – männlich und weiblich.]
  5. Der Leichnam gehört Inanna: Inanna, die Göttin der Liebe, kann nicht sterben, weil die Liebe nicht sterben kann, sondern den Tod überwindet. Zu diesem Zweck, und um in ihre Ganzheit einzutreten, muss Inanna jedoch noch ein paar Leichen im Keller ihres Lebenshauses integrieren. (Davon handelt der dritte Teil der Überlieferungen von Inanna, s. Der Hirte wird geschlagen.) 
  6. Darum die Antwort der beiden Wesen: Ob sie unserem König (dem Vater) oder unserer Königin (der Mutter) gehört, ist einerlei. (Denn sie sind und waren von Anfang an eins; s. Der Vater wagte den Weg in die Unterwelt).
  7. Die Liebe kann nicht sterben, sondern sie steht wieder auf! Und Liebe erweckt Liebe zu neuem Leben.

Und zur Auferweckung längst vergessener Träume und als Überleitung zum modernen Text und  dieses wundervolle Lied mit Videoclip (mit Übersetzung und Kommentar):

“Parler à von Père” von Céline Dion

Und mit diesen Ausführungen kommen wir nun zur modernen Geschichte:

Inannas Rettung durch den Vater anders erzählt

Anna im Gespräch mit Enrico

Mitfühlende Offenheit des Vaters

Am vereinbarten Termin stand ich mit klopfendem Herzen vor Enricos Tür und klingelte. Enrico öffnete. Er war älter geworden, sein Haar war nun ganz weiss. Aber noch immer überraschte er durch seine wachen Augen und seine lebendige, warme Ausstrahlung.

Als ich seinen liebevollen und besorgten Blick sah, konnte ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten. Er bat mich herein und zog schnell die Tür zu. Dann schloss er mich ohne etwas zu sagen in seine Arme und hielt mich einfach nur fest.
– Komm!, sagte er nach einer Weile, als ich mich etwas beruhigt hatte. Er führte mich ins Wohnzimmer: Setz dich.

Da sah ich, dass auch er Tränen in den Augen hatte.
Auf dem Tisch standen bereits eine Kanne Tee etwas Gebäck.
– Na? Willst du mir erzählen …?, forderte er mich sachte auf. 

Ich nickte, wischte meine Tränen weg und holte tief Luft:
– Ich weiss nicht, wo ich anfangen soll … Thomas und ich, … wir streiten uns viel. Er ist einfach nicht präsent in unserer Beziehung. Er bringt mich zur Raserei – ich weiss auch nicht … Und mit der Sexualität ist es schon länger schwierig. Ich wünsche mir mehr seelische Nähe, aber Thomas hat offenbar keine Ahnung, wovon ich rede. Er reagiert überfordert, gereizt und mit Abwehr auf alles, was ich sage, … fühlt sich wohl kritisiert.

Enrico nickte nur abwartend, sodass ich fortfuhr:
– Ich hatte aber immer wieder auch das Gefühl, dass mit mir etwas nicht in Ordnung ist, fühle auch häufig innere Trauer oder auch Wut … – nicht zuletzt auf Männer …

Schmutz unter den Fingernägeln

Dabei blickte ich Enrico zögernd an. Er war weiterhin präsent und sein Blick war verständnisvoll, also fuhr ich fort:
– Ich suchte innerlich nach einer Ursache, … hatte auch ein paar Stunden therapeutische Begleitung … Ich wollte einfach wissen, was mit mir los ist … überall dieser Schmerz in mir, in meiner Seele … Und auch diese Träume, … Angstträume …

Es fiel mir schwer, weiterzusprechen:
– Du weißt schon … mein Vater … Meine Mutter hat nie mit mir darüber gesprochen, was damals geschah, warum sie sich trennten …

Enrico hatte seine Stirn in tiefe Falten gelegt. Er schwieg und nickte bedächtig und blickte gedankenversunken auf seine Hände. 

Die nackte Wahrheit

Stockend fuhr ich fort:
– Und dann hatte ich auch noch diesen Traum … eine Frau … nackt an einen Baum gebunden und mehrere Männer … – Ich glaube, es war meine Grossmutter! Schrecklich …! Verstehst du? Es war wie ein Fluch … von Grossmutter zu Mutter … zu mir.

Enrico schüttelte traurig den Kopf. Aber er war noch immer präsent und blickte mich weiter erwartungsvoll an. Also erzählte ich ihm in allen Einzelheiten, wie sich das ganze Bild in mir immer mehr zusammengefügt hatte. – Das Bild meines Lebens, welches schon mit meiner Grossmutter begann, vor langer Zeit, und dann weiterging, über meine Mutter bis zu mir … Vage Erinnerungsfetzen waren aufgetaucht … Missbrauch … ein Mann, wohl mein leiblicher Vater …
Das alles hatte Spuren in meinem Leben hinterlassen, Spuren, die sich auch auf meine Beziehung auswirkten.

Enrico hörte sich alles schweigend an. Schliesslich sagte er nur:
Ich bin sprachlos …

Mehr sagte er nicht. Seine Anteilnahme zu fühlen, tat mir gut. Ich spürte, wie ich ruhiger wurde, entspannter, ja, wie ich innerlich loslassen konnte. Nun schwieg auch ich. Es war ein Schweigen, in welchem Friede lag – und wuchs.

Empathie als Rettung durch den Vater

Schliesslich sagte Enrico:
– Du hast unglaublich viel durchgemacht … hm … Dir ist Schweres auferlegt worden … Wie schaffst du das? Wie schaffst du es, dies alles zu tragen?

– Es ist ja nicht wirklich neu, antwortete ich: In gewisser Hinsicht habe ich schon mein ganzes Leben daran getragen. Darum war es für mich eher erlösend zu verstehen, was sich in meinen Wurzeln verbirgt. Nun weiss ich wenigstens, gegen was ich mein Leben lang anzukämpfen hatte. Jene Umstände, von denen ich nichts wusste, die aber ihren langen Schatten warfen und mich beeinflussten – auch meine Ehe beeinflussten, verstehst du …  Ich empfinde, dass da der Missbrauch weiter ging …

Ich blickte Enrico unsicher an. Er nickte und war mir noch immer ganz zugewandt, also fuhr ich fort:
– Ich glaube, da liegt die Quelle meiner Wut … auf Männer und damit besonders auf Thomas.

– Irgendwie verständlich, meinte Enrico nachdenklich: Und doch … Thomas fühlt sich wohl angeklagt, nur schon durch die Tatsache, dass er ein Mann ist …

Ich versuchte nicht, mich zu beherrschen, sondern sagte leidenschaftlich:
– Trotzdem! – Wenn er mich wirklich lieben würde, wenn ich ihm etwas bedeuten würde, dann würde er sich dochmir gegenüber anders verhalten, findest du nicht!? !

Brot und Wasser des Lebens

– Er braucht wohl Zeit, noch mehr Zeit, meinte Enrico sanft: Erkennen ist eine Sache, Verständnis haben eine andere und Mitfühlen eine dritte … Möglicherweise hat er selbst auch ein schlechtes Gewissen und mit Schuldgefühlen zu kämpfen. 

Nun blickte er mir tief in die Augen, während er meine Hände in seine nahm und eindringlich sagte:
– Anna! Du bist eine starke Frau! Und du hast viel Liebe! Du hast schon einen weiten Weg zurückgelegt. Das Licht hat schon zugenommen …  Ein neuer Tag ist angebrochen!

Dabei lächelte er mich warm an und ich fühlte, wie sich Wärme in meinem Inneren ausbreitete.
– Ich weiss schon, räumte ich ein und nickte: Ich weiss, es bringt nichts, wenn ich mich als Opfer sehe. Letztlich bin ich selbst für mein Glück verantwortlich.

Enrico nickte anerkennend und bestätigte:
– Du wirst es packen, das weiss ich gewiss. Du hast es in deinen Händen – und du bist schon sehr, sehr weit gekommen auf deinem Weg …! Die Talsohle ist durchschritten! Von nun an geht es wieder aufwärts!

Mit seinem Taschentuch tupfte er noch eine letzte Träne aus meinem Augenwinkel weg.

Die Dankbarkeit der Mutter

Ich lächelte ihn zaghaft an:
– Aber ich bin nicht mehr bereit, alles zu schlucken, meinte ich: Ich werde mir Thomas vorknöpfen müssen.

Enrico lächelte milde und meinte:
– Jetzt, wo eure Kinder erwachsen sind, ist eure Ehe neu herausgefordert. Sie muss sich verändern. Auch Thomas wird seinen Weg gehen müssen …

Noch immer ruhten seine warmen Augen in meinen:
– Sei nicht zu hart mit ihm, sagte er liebevoll und: Gib ihm nochmals eine Chance!

Ich seufzte tief:
Das wird aber kein Spaziergang werden …

Originaltext:

Übersetzung aus dem Sumerischen ins Englische: S.N. Kramer in WOLKSTEIN, DIANE / KRAMER SAMUEL NOAH. Inanna, Queen of Heaven and Earth. Her Stories and Hymns from Sumer. New York 1983 (Übersetzung aus dem Englischen ins Deutsche durch die Autorin).


Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Top

Newsletter Abonnieren

We respect your email privacy

Newsletter abonnieren

You have successfully subscribed to the newsletter

There was an error while trying to send your request. Please try again.

Goldspur will use the information you provide on this form to be in touch with you and to provide updates and marketing.