Anna im Gespräch mit Enrico
Mitfühlende Offenheit des Vaters
Am vereinbarten Termin stand ich mit klopfendem Herzen vor Enricos Tür und klingelte. Enrico öffnete. Er war älter geworden, sein Haar war nun ganz weiss. Aber noch immer überraschte er durch seine wachen Augen und seine lebendige, warme Ausstrahlung.
Als ich seinen liebevollen und besorgten Blick sah, konnte ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten. Er bat mich herein und zog schnell die Tür zu. Dann schloss er mich ohne etwas zu sagen in seine Arme und hielt mich einfach nur fest.
– Komm!, sagte er nach einer Weile, als ich mich etwas beruhigt hatte. Er führte mich ins Wohnzimmer: Setz dich.
Da sah ich, dass auch er Tränen in den Augen hatte.
Auf dem Tisch standen bereits eine Kanne Tee etwas Gebäck.
– Na? Willst du mir erzählen …?, forderte er mich sachte auf.
Ich nickte, wischte meine Tränen weg und holte tief Luft:
– Ich weiss nicht, wo ich anfangen soll … Thomas und ich, … wir streiten uns viel. Er ist einfach nicht präsent in unserer Beziehung. Er bringt mich zur Raserei – ich weiss auch nicht … Und mit der Sexualität ist es schon länger schwierig. Ich wünsche mir mehr seelische Nähe, aber Thomas hat offenbar keine Ahnung, wovon ich rede. Er reagiert überfordert, gereizt und mit Abwehr auf alles, was ich sage, … fühlt sich wohl kritisiert.
Enrico nickte nur abwartend, sodass ich fortfuhr:
– Ich hatte aber immer wieder auch das Gefühl, dass mit mir etwas nicht in Ordnung ist, fühle auch häufig innere Trauer oder auch Wut … – nicht zuletzt auf Männer …
Schmutz unter den Fingernägeln
Dabei blickte ich Enrico zögernd an. Er war weiterhin präsent und sein Blick war verständnisvoll, also fuhr ich fort:
– Ich suchte innerlich nach einer Ursache, … hatte auch ein paar Stunden therapeutische Begleitung … Ich wollte einfach wissen, was mit mir los ist … überall dieser Schmerz in mir, in meiner Seele … Und auch diese Träume, … Angstträume …
Es fiel mir schwer, weiterzusprechen:
– Du weißt schon … mein Vater … Meine Mutter hat nie mit mir darüber gesprochen, was damals geschah, warum sie sich trennten …
Enrico hatte seine Stirn in tiefe Falten gelegt. Er schwieg und nickte bedächtig und blickte gedankenversunken auf seine Hände.
Die nackte Wahrheit
Stockend fuhr ich fort:
– Und dann hatte ich auch noch diesen Traum … eine Frau … nackt an einen Baum gebunden und mehrere Männer … – Ich glaube, es war meine Grossmutter! Schrecklich …! Verstehst du? Es war wie ein Fluch … von Grossmutter zu Mutter … zu mir.
Enrico schüttelte traurig den Kopf. Aber er war noch immer präsent und blickte mich weiter erwartungsvoll an. Also erzählte ich ihm in allen Einzelheiten, wie sich das ganze Bild in mir immer mehr zusammengefügt hatte. – Das Bild meines Lebens, welches schon mit meiner Grossmutter begann, vor langer Zeit, und dann weiterging, über meine Mutter bis zu mir … Vage Erinnerungsfetzen waren aufgetaucht … Missbrauch … ein Mann, wohl mein leiblicher Vater …
Das alles hatte Spuren in meinem Leben hinterlassen, Spuren, die sich auch auf meine Beziehung auswirkten.
Enrico hörte sich alles schweigend an. Schliesslich sagte er nur:
– Ich bin sprachlos …
Mehr sagte er nicht. Seine Anteilnahme zu fühlen, tat mir gut. Ich spürte, wie ich ruhiger wurde, entspannter, ja, wie ich innerlich loslassen konnte. Nun schwieg auch ich. Es war ein Schweigen, in welchem Friede lag – und wuchs.
Empathie als Rettung durch den Vater
Schliesslich sagte Enrico:
– Du hast unglaublich viel durchgemacht … hm … Dir ist Schweres auferlegt worden … Wie schaffst du das? Wie schaffst du es, dies alles zu tragen?
– Es ist ja nicht wirklich neu, antwortete ich: In gewisser Hinsicht habe ich schon mein ganzes Leben daran getragen. Darum war es für mich eher erlösend zu verstehen, was sich in meinen Wurzeln verbirgt. Nun weiss ich wenigstens, gegen was ich mein Leben lang anzukämpfen hatte. Jene Umstände, von denen ich nichts wusste, die aber ihren langen Schatten warfen und mich beeinflussten – auch meine Ehe beeinflussten, verstehst du … Ich empfinde, dass da der Missbrauch weiter ging …
Ich blickte Enrico unsicher an. Er nickte und war mir noch immer ganz zugewandt, also fuhr ich fort:
– Ich glaube, da liegt die Quelle meiner Wut … auf Männer und damit besonders auf Thomas.
– Irgendwie verständlich, meinte Enrico nachdenklich: Und doch … Thomas fühlt sich wohl angeklagt, nur schon durch die Tatsache, dass er ein Mann ist …
Ich versuchte nicht, mich zu beherrschen, sondern sagte leidenschaftlich:
– Trotzdem! – Wenn er mich wirklich lieben würde, wenn ich ihm etwas bedeuten würde, dann würde er sich dochmir gegenüber anders verhalten, findest du nicht!? !
Brot und Wasser des Lebens
– Er braucht wohl Zeit, noch mehr Zeit, meinte Enrico sanft: Erkennen ist eine Sache, Verständnis haben eine andere und Mitfühlen eine dritte … Möglicherweise hat er selbst auch ein schlechtes Gewissen und mit Schuldgefühlen zu kämpfen.
Nun blickte er mir tief in die Augen, während er meine Hände in seine nahm und eindringlich sagte:
– Anna! Du bist eine starke Frau! Und du hast viel Liebe! Du hast schon einen weiten Weg zurückgelegt. Das Licht hat schon zugenommen … Ein neuer Tag ist angebrochen!
Dabei lächelte er mich warm an und ich fühlte, wie sich Wärme in meinem Inneren ausbreitete.
– Ich weiss schon, räumte ich ein und nickte: Ich weiss, es bringt nichts, wenn ich mich als Opfer sehe. Letztlich bin ich selbst für mein Glück verantwortlich.
Enrico nickte anerkennend und bestätigte:
– Du wirst es packen, das weiss ich gewiss. Du hast es in deinen Händen – und du bist schon sehr, sehr weit gekommen auf deinem Weg …! Die Talsohle ist durchschritten! Von nun an geht es wieder aufwärts!
Mit seinem Taschentuch tupfte er noch eine letzte Träne aus meinem Augenwinkel weg.
Die Dankbarkeit der Mutter
Ich lächelte ihn zaghaft an:
– Aber ich bin nicht mehr bereit, alles zu schlucken, meinte ich: Ich werde mir Thomas vorknöpfen müssen.
Enrico lächelte milde und meinte:
– Jetzt, wo eure Kinder erwachsen sind, ist eure Ehe neu herausgefordert. Sie muss sich verändern. Auch Thomas wird seinen Weg gehen müssen …
Noch immer ruhten seine warmen Augen in meinen:
– Sei nicht zu hart mit ihm, sagte er liebevoll und: Gib ihm nochmals eine Chance!
Ich seufzte tief:
– Das wird aber kein Spaziergang werden …