Ich bin Lilith
Makellose Schönheit
Ich bin wunderschön! Meine Haut ist weiss wie Schnee, meine langen, lockigen Haare sind rot wie die Erde. Meine Augen sind grün wie ein Gletschersee. Mein Körper ist makellos. Kein Mann kann mir widerstehen. Gewiss, ich weiss meine weibliche Macht zu nutzen. Als Frau muss man entweder unten durch – oder man nimmt sich, was man will.
Niemals wie Mutter – ich bin Lilith!
Damals bekam ich es mit, wie Mutter NinLil vor Vater EnLil kuschte. Sie war so schön, zart und sanft – und natürlich liebte sie ihn. Sie war die Göttin der Luft, sie wollte ihm jeden Wunsch erfüllen. Er liess ihr aber weder Raum noch Zeit. Er nahm sie, tat ihr Gewalt an, wann immer er wollte.
Vom Himmel in die Unterwelt
Die anderen Götter bekamen das mit und beschlossen, Enlil zur Strafe in die Unterwelt zu schicken. Dort sollte er in sich gehen, sich seinen Schatten stellen. Doch NinLil folgte ihm dorthin – aus Liebe! Kein Wunder, sie hatte sich ihm mit ihrem ganzen Leben hingegeben, … hatte kein eigenes Leben … Ihn zu verlieren würde bedeuten zu sterben. (1)
Enlil-Marduk zum höchsten Gott
Doch während NinLil in Vergessenheit geriet, wurde En-Lil weiter auf der Erde angebetet und konnte so in den Götterhimmel zurückkehren, wo er sich sogar zum höchsten Gott aufschwang. EnLil-Marduk feierte jugendlich-stürmische Macho-Männlichkeit und etablierte nun eine neue Weltordnung: die Ordnung der Macht. (2)
NinLil liess er allein in der Unterwelt zurück. Daraufhin sprachen ihr die Götter diesen Bereich als ihr Herrschaftsgebiet zu. Sie wurde NinLil, die Göttin des Himmels, zu NinGal, der Göttin der Unterwelt, oder zu EreshKiGal der Herrscherin des Landes unter der Erde. (3)
Der Geist der Macht
Aber nicht mit mir! Ich bin mächtig! Ich beherrsche die geistige und die virtuelle Welt. Meine Macht ist bereits in Babylon zu voller Blüte gelangt und hat sich über die jüdische Geschichte bis nach über Rom ausgestreckt. Auf den sieben Hügeln war mein Palast! Doch mein grösster Triumph steht noch aus: Gemäss der Offenbarung der Bibel werde ich bekleidet mit Gold und Edelsteinen auf dem grössten Tier reiten, das die Welt je gesehen hat! Ja, ich bin das Wahrzeichen jeder weltlichen Macht und meine Illusionen werden von der militärischen und kriegerischen Durchsetzungskraft der Staatsgewalt getragen! (19)
Papas Prinzessin – «Lecken» an der weiblichen Essenz
Aber zurück zu den Anfängen. Es begann schon damals, in Sumer oder genauer in Akkad. Da war ich, Lilith, von klein auf Papa EnLils Töchterchen und sein Liebling. Er vergötterte mich und ich lernte schnell, wie ich mich verhalten muss, um alles von ihm zu bekommen. Ich kroch auf seinen Schoss … Dann ein Augenaufschlag, der süsse kleine Schmollmund, eine vorteilhafte Pose … Das funktionierte immer! (4)
Die dunkle Seite des Mondes
Wenn die Frau die Göttin des Mondes ist, dann stehe ich für seine dunkle Seite. Ich pfeife auf das Licht der Sonne – als männliches Symbol! – Das ist das Los der Frau in dieser Welt: Das einzige Licht, das sie haben durften, ist der Abglanz der Männer … (5 und 6)
Der Mond ist weiss-schwarz. – Und so wollen Männer uns Frauen sehen: entweder weiss als jungfräuliche makellose Göttin oder schwarz, als Hure! Starke Frauen haben sie jedoch immer wieder als Monster diffamiert oder als Hexen verfolgt und ausgerottet! (7 und 8)
Liliths Macht
Aber nicht mit mir! Ich habe beides, bin sowohl makellos als auch überaus mächtig!
Hat jemand gesagt, dass Männer Licht sein sollen? – wie die Sonne??? So ein Quatsch! Limitiert, eindimensional, linear und berechenbar sind sie und sie wollen immer nur das eine! Sex! Dabei nehmen sie skrupellos, was sie können, – wenn sie können, das heisst, wenn sie Macht haben …
Adam bedeutet „aus Erde“. Das sagt schon alles: Männer sind elende Materialisten, auf Körper und Materie fixiert. (4)
– Und genau hier setzt meine Macht an.
Du willst Sex? Ich kann Sex geben, – vielleicht … wenn ich will … Aber das hat einen Preis! – Und ich setze den Preis fest.
Die Königin der Nacht
Ich bin so alt wie die Menschheit selber, die Königin der Nacht!
Die Nacht und das Dunkel sind meine Domäne, denn ich herrsche im Unbewussten, im Bereich des Körpers und der Triebe. (9)
Fluch und Tod
Aber ich will euch auch die dunkle Seite, die traurige Wahrheit nicht vorenthalten.
Auch ich wurde vergewaltigt, war noch fast ein Kind …
Da rief ich den unaussprechlichen Namen Gottes aus: MUTTER!
Sie, die grosse Mutter-Göttin, verschwunden aus dem Bewusstsein der Menschen, verbannt in die Unterwelt … Es erging mir nicht besser als ihr! Mir widerfuhr dasselbe!
Das ist das traurige Erbe, das ich von meiner Mutter empfangen habe und welches ich auch an meine Tochter weitergebe, das Los der Frau: Fluch und Tod! (10)
Das Rote Meer
Was sollte ich also tun mit meinen Körper, der mir genommen worden war? Ich verliess ihn, zog mich innerlich aus ihm zurück und verzog mich in eine geistige Welt, in meine eigene Welt. Es heisst, Lilith flog … ans „Rote Meer“ –,
Ja! Denn Ti-Amat, die Jungfrau des Lebens, weinte ein Meer von salzigen Tränen und wurde so zum zornigen Drachen der Meere, ja zu einem Meer, rot wie Blut … Denn Weiblichkeit muss immer für das Leben der anderen bluten! (11)
– Und meine Tochter … Ich brauche es euch nicht zu sagen – oder?
Lilith – Inanna / Eva
Inanna ist meine Tochter! Sie ist besser bekannt als Eva … Adams zweite Frau!
So ist denn auch die zweite Schöpfung in der Bibel zu verstehen: „Gott“, nämlich EnLil, der böse Gott der Luft, «baute» Eva – aus einer „Rippe“, die mit «Fleisch» umgeben war. Was soll denn das sein??? Es ist natürlich ein Bild für das männliche Glied. Und so «schuf» er denn die „neue“ Frau, die ihm gefiel, nämlich mit Gewalt gefügig gemacht für Sex nach seinen Vorstellungen und jubelte: „Endlich Fleisch aus seinem Fleisch!“. (12)
Das verlorene Paradies
Und damit ihr endlich aufwacht und versteht, was Sache ist und was uns die Überlieferungen schon lange sagen: Das bedeutet nichts anderes als …
Die erste Vergewaltigung geschah im Paradies!
Und das ist logischerweise auch der Grund, warum das Paradies, das heisst die Einheit und Geborgenheit der Menschen, verloren ging. (13)
Kein Wunder, bemühen sich Männer seither, die Sache zu vertuschen und umschreiben sie mit schwer verständlichen Bildern, während sie stattdessen der Frau als «Schlange» die Schuld in die Schuhe schieben!
Und so entstand die traurige Realität, dass die Frau als Sündenbock herhalten muss – immer wieder …! Auf diese Weise wird die Frau abgewertet, von ihrer Liebe getrennt und zu Fall gebracht, wobei ihre ihre Unschuld und ihr Leben zerstört werden. Und danach wird sie weggeworfen und obendrauf noch als Hure verunglimpft. (14)
Aber diese Rechnung geht nicht auf!
Die Schlange: die innere Frau des Mannes als Hure
Wenn die Überlieferung sagt, Lilith sei die Schlange, die Eva „verführte“, dann ist damit natürlich die Schlange im Mann gemeint, die List, die er anwandte, um seinen Trieb durchzusetzen. Er verführte sie: «Komm schon, was ist denn schon dabei …»! (13)
Er ist selber schuld, wenn er sich nicht im Griff hat. – Und hier setzt denn auch meine Macht an.
Meine Magie
Männer mögen körperliche und materielle Überlegenheit haben, aber meine Macht ist grösser! Ich habe die Magie! (15)
– Und darum lieben mich die Männer, hassen und fürchten sie mich. Sie nennen mich „dunkle Jungfrau“, weil sie mich nicht kontrollieren können und Angst haben vor meiner Macht. Zu Recht! In meiner Hand sind sie wie Wachs, wehrlos wie hypnotisierte Kaninchen. – Alle Männer sind gleich, im Grunde sind sie schwach. Ich verachte sie!
Geistige Macht
Jawohl, ich bin ein Geist!
Soll das etwa bedeuten, dass ich nicht lebe? Natürlich lebe ich! Ich bin ewig jung, ewig schön! Und niemand kann mir etwas anhaben. Wenn das kein Leben ist?! – Das ist doch, was jede Frau sich wünscht!
Lilith lebt an vielen Orten und in vielen Gestalten, in vielen Menschen, in vielen Frauen und Männern! (7)
Rache ist süss
Und ja, ich bin mächtig! Ich wohne in jeder missbrauchten und vergewaltigten Frau – und da sind viele – überaus viele!!! (16)
So gebe ich jeder Frau Macht über die Männer, indem ich deren Fantasien beflügle. Die Bilder gehen bei ihnen schnell rein … Ich muss auch nichts von mir geben, es läuft bei ihnen gleich ab. In ihren Träumen zeige ich mich ihnen als das perfekte Sex-Objekt, das genügt, schon ist die Sache gegessen – im wahrsten Sinne des Wortes, das ist der wahre Apfel! (10) – Doch sie werden dabei nicht satt, sondern noch hungriger, noch abhängiger …
Das ist meine Rache an Adam und seinen Nachkommen! (17)
Natürlich gibt es immer wieder Probleme, wenn so eine junge Frau schwanger wird! Früher war das eine Schande! So wurde aus Verzweiflung so manches Neugeborenes beseitigt … – Aber ist das meine Schuld?! Es ist die Moral, wiederum von Männern geschaffen, welche die Ursache für diese verzweifelte Tat ist! –
Zum Glück gibt es heute Verhütungsmittel.
Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.
Gewiss, meine Tochter ist aus demselben Holz geschnitzt wie ich! – Und wie ich das Leiden meiner Mutter in meinem Körper trage, so trägt sie das Leiden ihrer Mutter und ihrer Grossmutter in ihrem Körper.
Ist es denn meine Schuld? Die Mutter wohnt und lebt immer in ihrer Tochter weiter, denn die Tochter ist aus dem Körper der Mutter geboren.
Und das Leben wohnt in jedem Menschen … So geht das Leben weiter – und der Fluch ebenfalls –
Das ist die grosse Erbsünde …! (18)