Der eigenmächtige Mensch ohne Gott
Der Text besagt, dass die Menschen in Babylon einen Turm bis zum Himmel bauten, um sich “einen Namen” zu machen (s. “Der Turm zu Babel” im Bibelserver). Dies passt zum Gilgamesh-Epos, welches den Menschen glorifiziert, der in Eigenmacht lebt und auch Macht im Geist (Himmel) ausübt. Damit enthält das Epos eine “göttliche”, nämlich geistige Botschaft und Bestätigung für ein ganzes Kollektiv, das sich von den Göttern losgesagt hat. Letzteres ist in diesem Zusammenhang sogar nachvollziehbar, weil die Götter im Gilgamesh-Epos als launisch, rachsüchtig, unberechenbar, egoistisch und gewalttätig dargestellt werden.
Gott als Zerstörer der Einheit? EnLil, Gott des Krieges!
In Babylon und im Gilgamesh-Epos wird die Göttin der Liebe zur Hure erklärt und EnLil, der Gott der Luft, der jugendlich-stürmische und invasive Macho-Männlichkeit symbolisiert, zum höchsten Gott erhoben. Er wird im Epos auch für die grosse Flut verantwortlich gemacht und stellt als der Gott der Macht, des Krieges und des Sturms den negativen Antrieb (Animus) als Teufel oder Tier dar. So kann wohl eine Kultur, die nur streitsüchtige Götter kennt, auch keine Einheit und Verständigung finden.
Das Gilgamesh-Epos als Turmbau und Sprachverwirrung
Die Anbetung unreifer Götter durch unreife Menschen: Macht!
Im Gilgamesh-Epos steht also zunächst der unreifen und machtorientierten Männlichkeit ebenso unreife Weiblichkeit gegenüber, symbolisiert durch die Göttin (Anima) als HURE oder die SCHLANGE, welche Verführung, List und Lüge symbolisiert. Doch im dritten Teil treten reife Männlichkeit und Weiblichkeit als Archetypen für Gottes Geist der Ganzheit auf (C.G. Jung nennt das göttliche Paar die Syzygie). Es ist das Paar, das die grosse Flut überlebt hat und in den Stand der Götter erhoben worden ist. Diese Einheit, voller mitfühlender Weisheit, hilft Gilgamesh weiter auf seinem Heldenweg.
Legitimierung eines Systems der Macht: noch immer aktuell!
Doch diese Perlen beziehungsweise das Lebenskraut, das im Epos verborgen liegt, muss man finden und ausgraben. Denn überaus dominant wird das System von Macht, Lügen und Skrupellosigkeit dargestellt, welches auch vor dem Himmel nicht zurückschreckt … Ein Phänomen, das auch heute noch nicht überwunden ist, ja vielmehr zurzeit gerade einem Höhepunkt zuzustreben scheint.