«Es wird keine Hochzeit geben!»
Wiedersehen von Dornröschen und dem Prinzen
Wie gesagt: Die Dinge liefen gut. Ich war mit meiner Arbeit gefordert und ausgefüllt und Aurora war in ihrem Studium schon weit gekommen.
Bis ich eine Veränderung registrierte. Ich hatte den Eindruck, dass meine Tochter sich in letzter Zeit irgendwie verändert hatte. Sie wirkte etwas abgehoben, wie in einer anderen Welt. Das beobachtete ich mit einer gewissen Sorge. Was war los? War da ein Mann? – Aber nicht etwa Philip??!
Noch bevor ich mir überlegt hatte, wie ich die Sache ansprechen solle, kam Aurora mir zuvor und sagte eines Tages:
– Mama, ich muss dir etwas erzählen … Ihre Augen leuchteten.
«Oh nein, bitte nicht!», seufzte ich innerlich. Laut sagte ich:
– Was denn, Liebes?
– Ich habe Philip wieder getroffen … Und weisst du, es ist seltsam … Aber ich empfinde noch immer viel für ihn …
Sie überhörte mein Schweigen und schwärmte:
– Wir verstehen uns einfach wunderbar. Mit ihm fühle ich mich so glücklich! Und …
– Und was …?
– Er hat mir einen Heiratsantrag gemacht! Schau mal!
Strahlend präsentierte sie mir einen feinen Ring mit einem Stein.
Es fiel mir wirklich schwer, auch nur ansatzweise so etwas wie Freude zu zeigen, stattdessen entfuhr es mir:
– Oh mein Gott! – Aber … Du bist noch so jung und mitten in deiner Ausbildung!
– Aber Mama, das ist doch kein Hindernis! Die Liebe ist nie ein Hindernis!, ergänzte sie euphorisch.
Innerer Widerstand
Innerlich verdrehte ich die Augen und sagte schliesslich:
– Was ist denn mit seinen Eltern – oder anders gefragt: Sind Stefan und Ingrid noch zusammen?
– Ja! Sie hatten sich nach einer Zeit der Trennung wieder versöhnt.
Sie blickte mich zögernd an:
– Mama! Wir sind bei ihnen zum Essen eingeladen – auch du! Ich weiss, das stösst bei dir gewiss nicht auf Begeisterung, aber bitte komm mit! Es bedeutet mir sehr viel! – Mir zuliebe!!!
– Tatsächlich forderst du jetzt einen grossen Liebesdienst von mir, sagte ich dumpf.
Aurora fiel mir um den Hals:
– Du bist die beste Mutter. Es wird bestimmt ein netter Abend.
Bewusstwerdung: negative Weiblichkeit
Hinterhalt und Intrige
Der Abend wurde aber wie erwartet zu einem Fiasko. Ingrid stichelte und schien es darauf angelegt zu haben, mich zu provozieren. Sie sagte mit scheinheiliger, einschmeichelnder Stimme:
– Wie war das denn so, da du immer gearbeitet hast? Hattest du überhaupt Zeit, dich an deiner Tochter zu freuen und zu ihr eine stabile Bindung aufzubauen? – Studien belegen ja, dass es ein Problem ist, wenn Kinder zu früh fremdbetreut werden …
Ich sah bereits rot, aber Aurora legte beschwichtigend ihre Hand auf meine. Aber Ingrid fuhr fort:
– Zudem ist es wichtig, dass die Kinder auch mit einem Vater aufwachsen … Dabei blickte sie erwartungsvoll auf Stefan, wohl in der Hoffnung, dass er zustimmen würde.
Aber Stefan fühlte sich sichtlich unwohl und schien sich nicht zu einem Kommentar durchringen zu können. Schliesslich seufzte er und sagte:
– Heute wollen wir doch feiern – feiern, dass unsere Jungen glücklich sind!
– Wie wahr, stimmte Ingrid sogleich wieder zuckersüss ein: Aurora ist wirklich entzückend! Ich habe mir immer eine Tochter gewünscht, und ich freue mich, sie in meiner Familie willkommen zu heissen. Ich will für sie eine gute Mutter sein!
Der Schmerzkörper (Zorn)
Ich kochte innerlich, als ich erwiderte:
– Ja, tatsächlich! Ich habe hart gearbeitet, im Gegensatz zu dir! Und ich habe meiner Tochter hoffentlich beibringen können, was es bedeutet, sich im Leben zu bewähren und unabhängig zu sein. Ich bin froh, dass sie keine verwöhnte dumme Ziege geworden ist … Wie du!, fügte ich hinzu und spürte förmlich Blitze aus meinen Augen schiessen, als ich fortfuhr: In diesem Sinn wird sie nie deine Tochter sein!
Ingrid schnappte nach Luft und wandte sich an Stefan:
– Stefan! Hast du das gehört?! Müssen wir uns das gefallen lassen?!!
Sündenbock-Mechanismus
Als er schwieg, wandte sie sich wieder an mich und sagte schnippisch:
– Siehst du, du machst Männer mundtot. Das ist wohl auch der Grund, warum nichts aus dir und den Männern wurde. Du bist selber mehr Mann als Frau und machst Männern Angst. Aber zum Glück hat Aurora jetzt die Chance, eine richtige Frau zu werden … Verderbe ihr das nicht!, sagte sie mit drohendem Unterton.
Negative Paardynamik und Ohnmacht des Mannes
Mit einem Ruck erhob ich mich, sodass der ganze Tisch wackelte und warf meine Serviette in den Teller. Dabei sagte ich:
– Ich wüsste nicht, was an intriganter Hinterhältigkeit «richtig» weiblich sein soll! Und wenn dein Mann dasitzt und sich nicht rühren kann, dann liegt das wohl eher daran, dass du ihn durch dein Gift schon längst kastriert hast!
Aurora blickte mich entsetzt an.
– Gehen wir!, forderte ich sie auf. Aber sie schaute auf Philip und antwortete trotzig:
– Ich bleibe hier!
Die Schatten
Der Sturz ins Meer: das kollektive Unbewusste
Ich ging eine weite Strecke zu Fuss durch die Nacht. Innerlich aufgebracht sann ich darüber nach, wie es möglich war, dass ein paar heimtückische Bemerkungen mich derart aus der Fassung bringen konnten. Die dumme Ziege war gezielt auf meine Hühneraugen getreten. – Aber was war denn eigentlich los – mit mir?
In der folgenden Zeit dachte ich viel nach. Immer wieder hatte ich die problematische Beziehung meiner Eltern vor Augen und die offensichtliche Frustration meiner Mutter. Dies hatte zu meiner jugendlichen Entscheidung geführt, nie so zu leben wie sie und lieber unabhängig zu bleiben, selbst wenn die bedeutete, keinen Partner zu haben.
Der Phönix: geistige Macht und Kraft
So war mein Ziel offensichtlich, meine Eigenständigkeit um jeden Preis zu bewahren. Dabei war ich dankbar, dass ich in einer Zeit heranwuchs, in welcher die Frauen mehr Möglichkeiten hatten. Denn niemals wollte ich mich einem dahergelaufenen Trottel von Mann unterordnen! – Doch nun musste ich erkennen, dass diese Haltung aus meinen eigenen, sehr persönlichen Erfahrungen gewachsen war.
Gefangene Liebe und Auroras Heldenweg
Bewusstwerdung (1)
Aber meine Tochter? Sie hatte eine andere Erfahrung als ich. Zudem war sie stark und dennoch sanft … Sie war auch offen für die Liebe und so voller Vertrauen. Ich musste mir eingestehen, dass sie mir diesbezüglich einiges voraushatte. – Und nun hätte ich ihr das beinahe zerstört … Aus lauter Egoismus. Es war nicht richtig gewesen von mir. Denn
natürlich durfte sie ihren eigenen Weg finden und gehen und brauchte sie nicht meine Werte zu leben.
Ach! Was war ich bloss für eine schreckliche Mutter … – nicht viel besser als Ingrid!
Initiation, Wüste (2 und 3)
Dennoch hoffte ich, dass Aurora ihre Eigenständigkeit bewahren würde – in dieser «Familie». Und dass sie nicht an Ingrids Konventionen und Machenschaften ersticken würde.
Erfolg (4; Aufstehen zu Selbstwirksamkeit)
Es waren ein paar Wochen vergangen, da stand Aurora plötzlich wieder vor meiner Tür. Sie hatte Tränen in den Augen und fiel mir um den Hals:
– Mama! Du hattest ja soo recht! Es tut mir leid, dass ich das zunächst nicht sehen konnte. Aber jetzt habe ich es erlebt!
– Ach meine Liebe, antwortete ich: Ich habe mich nicht gerade vorbildlich verhalten. Es tut mir leid!
Aurora erzählte mir von Streitigkeit zwischen Ingrid und Stefan. Aber was sie vor allem verletzt hatte, war, dass Philip sich von Ingrid offensichtlich auch verwöhnen und verhätscheln liess, wie sie es formulierte:
– Er ist ein Muttersöhnchen und hat ihre üble Art keineswegs durchschaut. Zudem ist er nicht mit meinem steigenden Missmut klargekommen, sondern hat seine Mutter sogar noch verteidigt! Da ist mir der Kragen geplatzt und ich bin gegangen.
Der Kampf (5) die Kirche und das Eisenpulver
Weiter erzählte Aurora, dass Ingrid sie jeweils am Sonntag in die Kirche geschleppt hatte:
– Diese finstere Kirche und die dröhnende Orgel – was soll denn das mit Gott zu tun haben???
Hinzu kam, dass Ingrid auch dauernd etwas an ihrer Kleidung auszusetzen hatte:
– Zu Beginn versuchte ich ernsthaft, mich anzupassen, zumal Ingrid immer wieder betonte, ich müsse noch viel lernen, wenn ich mich in «der Gesellschaft» sicher bewegen wolle. Aber wenn ich es wagte, etwas dagegen zu sagen, kam sie gleich mit dem Hammer: «Du bist wie deine Mutter. So wird es schwierig für jeden Mann, mit dir klarzukommen!», dabei blickte sie Philip vielsagend an.
Der Kampf und der Sieg der Liebe
Auferstehung der geistigen Kraft der Frau
Wenige Tage später stand dann tatsächlich Ingrid vor der Tür. Aurora hatte geöffnet und war sprachlos. Ohne Umschweife sagte Ingrid:
– Aurora, komm nach Hause! Die Hochzeitsvorbereitungen sind schon in vollem Gang, die Einladungen verschickt, der Saal gebucht … Du glaubst nicht, wie viel mich das alles bis jetzt bereits gekostet hat! Und auch der Schneider …
Bärenmutter und Phönix
Ich ging zur Tür und schob Aurora sanft zur Seite. In aller Ruhe sagte ich:
– Guten Tag, Ingrid. Es tut mir leid für all die Umstände, die dir das bereitet, aber ich befürchte, du musst die Hochzeit wieder absagen.
– Du weisst nicht, was du tust!, zischte Ingrid. Du zerstörst gerade das Leben und die Zukunft deiner Tochter!
– Das glaube ich nicht, liebe Ingrid. Und ich weiss sehr wohl, was ich tue. Schliesslich wollte sie ja nicht dich, sondern deinen Sohn heiraten, nicht wahr? – Wo ist er denn??
Wutschnaubend und unverrichteter Dinge zog Ingrid wieder von dannen.
Endlich Hochzeit: Dornröschen und der Prinz vereint
Sieg der Liebe
Nach zwei Wochen stand Philip vor der Tür – mit einem riesigen Strauss roter Rosen in seiner Hand:
– Der ist für dich, sagte er und streckte ihn Aurora hin.
Aurora blickte ihn misstrauisch an und sagte:
– Hat deine Mutter dich geschickt?
Philip lachte und sagte:
– Mein Gott! Nein!!! – Aber ich verstehe, dass du das denkst. Ich habe mich wie ein Trottel benommen. Bitte verzeih mir! Ich war mit der Situation völlig überfordert. Jetzt bin ich hier, um dir zu sagen, dass ich dich zurückwill! Ich liebe dich und will mein Leben mit dir verbringen! Wir werden uns gewiss so einrichten, wie es dir gefällt, das verspreche ich dir. Mir ist total wichtig, dass es auch für dich stimmt!
Aurora war sichtlich gerührt und ihre Hand zitterte ein wenig, als sie die Blumen entgegennahm.
Hochzeit
Die beiden beschlossen, ihre Verbindung in kleinem Rahmen unter freiem Himmel zu besiegeln. Es war ein wunderschöner, sonniger Nachmittag. Aurora strahle wie der Himmel selbst und Philip war überaus liebevoll und aufmerksam.
Als sie sich ihr gegenseitiges Versprechen gaben, spürte ich etwas Grösseres, Heiliges, das uns alle umgab.
Versöhnung
Ingrid war nicht anwesend. Sie war wieder in der Klinik. Im Anschluss an die Feier kam Stefan auf mich zu. Er sah gut aus, und seine angegrauten Schläfen gaben ihm eine gewisse Würde:
– Wollen wir uns mal treffen und alles in Ruhe besprechen – wir zwei?
– Hm …, sagte ich: Was ist mit Ingrid?
– Sie hat wieder einmal die Scheidung eingereicht und diesmal werde ich wohl nicht mehr dagegen ankämpfen, antwortete er und zog seine Augenbrauen hoch zu einem Gesichtsausdruck, der schwer zu deuten war.
Nach einem kurzen Zögern sagte ich:
– Ja, warum nicht? – Also gut, lass uns einen Termin finden …